Zuhause bei Herrn Holgersson

Wie kann Buchhandel in Zeiten von Amazon und fortschreitender Digitalisierung noch funktionieren? Eine viel diskutierte Frage, auf die die zwei jungen Buchhändlerinnen Elisabeth Windfelder und Jasmin Marschall eine Antwort gefunden haben. Die beiden haben nämlich im Juli 2014 ihre eigene Buchhandlung mit dem schönen Namen herr holgersson – lesen&leben in der kleinen Stadt Gau-Algesheim in Rheinland-Pfalz eröffnet. Das besondere an der Buchhandlung ist, dass sie wie eine Wohnung eingerichtet ist. Hier kann man sich also wie zuhause fühlen.

 

Fotos: Stefan Zahm

Was es genau mit diesem Konzept auf sich hat und welche Besonderheiten es außerdem noch gibt, erzählt Elisabeth uns im Interview:

Wie ist die Idee entstanden, eine Buchhandlung zu eröffnen?
Genau können wir das nicht mehr auf einen bestimmten Zeitpunkt zurückführen. Meine Kollegin Jasmin Marshall und ich sind beide gelernte Buchhändlerinnen und  haben auch vorher schon zusammen gearbeitet. Wir haben uns immer viele Gedanken gemacht, wie Buchhandel heute noch funktionieren kann und was es dazu braucht. Dann sind wir irgendwann auf die Idee gekommen, dass es ganz natürlich wäre, eine Buchhandlung zu eröffnen, die wie eine Wohnung aufgeteilt ist. Zuhause hat man seine Bücher ja auch nicht an einem Ort, sondern die Kochbücher in der Küche, die Romane im Wohnzimmer und die Kinderbücher eben im Kinderzimmer. Warum also alle Bücher statisch in Regale packen, wenn es auch anders geht? Das war der Ausgangspunkt unserer Idee und wir konnten uns vorstellen, uns zu zweit selbstständig zu machen. Schneller als wir dachten, wurden wir dann auf geeignete Räumlichkeiten in Gau-Algesheim aufmerksam. Sie befinden sich im Erdgeschoss eines alten Weinguts am Marktplatz. Als wir zum ersten Mal drin waren, haben wir direkt gesehen, dass wir unsere Idee hier gut umsetzen könnten.

War Gau-Algesheim von Anfang an euer Wunschort?
Das hat sich durch die Räumlichkeiten so ergeben. Uns war nur klar, dass wir im Rhein-Main-Gebiet bleiben wollten. Was wir allerdings nicht wollten, war in eine größere Stadt bzw. in Innenstadtlage zu ziehen. Wir haben uns von Anfang an überlegt, dass wir lieber in eine Kleinstadt oder einen Vorort möchten, wo wir nicht ganz so viel Laufkundschaft haben, aber unsere Kunden einfach besser kennenlernen können und wir als einzige Buchhandlung vor Ort sind. Wir haben uns dann Gau-Algesheim genauer angesehen. Es gibt dort schon etwas Einzelhandel, zum Beispiel einen Metzger, eine Apotheke oder einen Schuhladen. Die Stadt selbst hat relativ wenig Einwohner, aber zur Verbandsgemeinde gehören noch einige Orte im Umkreis. Die Gemeinschaft hat uns überzeugt, es gibt viele junge Familien, und alle sind sehr engagiert und darauf bedacht, dass die Stadt ein lebenswerter Ort ist. Das kann man gut mit unserem Konzept in Verbindung bringen. Wir haben dann eine Einwohneranalyse gemacht und Infos beim Städtischen Bundesamt eingesehen. In einer Excel-Tabelle haben wir aufgelistet, wie viele Leute in welchem Alter, Geschlecht, etc. hier wohnen und das mit Zahlen aus „Buch und Buchhandel in Zahlen“ hinterlegt. So haben wir unsere Umsatzplanung angelegt und noch einen Online-Teil herausgerechnet. Das heißt allerdings nicht, dass wir Online-Buchhandel blöd finden oder nicht machen möchten. Es funktioniert sehr gut, unser Online-Shop ging einen Tag vor der Ladeneröffnung online. In allererster Linie bedienen wir zwar die Kunden vor Ort, aber auch das Online-Geschäft läuft gut.

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Besteht die Zielgruppe dann auch hauptsächlich aus jungen Familien?
Wir haben eher ein allgemeines Sortiment, also Romane, Krimis, Kochbücher, Gartenbücher, Biografien, Sachbücher und Kinder- und Jugendbücher. Mit eine Zielgruppe sind aber auch junge Familien in allen ihren Teilen. Allerdings bemerken wir, dass wir von Jung bis Alt jeden bedienen, wir haben viele interessante Kunden. Es ist also im Grunde eine Buchhandlung für Gau-Algesheim. Wir merken auch, dass wir beim Einkauf ganz spezielle und einzigartige Bücher bestellen können, die dann auch ihre Interessenten finden. Das ist nach einem halben Jahr ganz spannend zu beobachten. Büchern, bei denen wir dachten „Oh Gott, ob die jemand kauft?“ gehen auch ganz schnell weg, weil wir so ein vielfältiges Publikum haben.

Wie kam der Name zustande?
Der Name kam über unser Konzept zustande, die Buchhandlung wie eine Wohnung einzurichten. Und wir wussten, was wir nicht wollten. Wir wollten das Wort „Buchhandlung“ nicht in unserem Namen, weil das ein recht klassisches Bild vorgibt, mit dem wir nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Dann kamen wir auf die Idee, dass wir gerne eine Art fiktiven Bewohner für unsere Wohnung schaffen wollen. Auf der Suche nach einer passenden literarischen Figur sind wir dann auf Nils Holgersson gestoßen. Da uns das aber zu kindlich war, haben wir ihn erwachsen werden lassen und Herr Holgersson daraus gemacht. So werden Erwachsene auch nicht abgeschreckt. Am Anfang wurden wir oft angesprochen, wo der Name herkommt. Die Leute fanden es spannend und waren neugierig darauf. Jetzt setzt er sich langsam durch und viele Kunden sagen „Ich bin gerade beim Herrn Holgersson.
Nils Holgersson war außerdem ursprünglich ein Buch, was schwedischen Kindern die Landschaft näher bringen sollte, denn Nils fliegt auf seiner Reise mit den Wildgänsen durch Schweden. Inzwischen gibt es das Buch als Kinderbuch, als Erwachsenenbuch, als Neuübersetzung, als E-Book, als Reclam-Heft, als Hörbuch, als Serie, …  Es gibt ganz viele verschiedene Formen und das ist eigentlich genau das, was wir als herr holgersson widerspiegeln möchten. Es geht nicht nur ums Buch, sondern um Geschichten. Ob der Kunde diese als Buch, E-Book oder Hörbuch kauft, kann er selbst entscheiden. Das wollen wir ihm nicht aufzwängen. Zur Namenswahl kam noch hinzu, dass die Autorin von Nils Holgersson, Selma Lagerlöf, die erste weibliche Literaturnobelpreisträgerin war. Somit hat sich für uns alles sehr gut zusammengefügt.

Welche Veranstaltungen und Formate gib es bei euch?

holgersson_4371 Ein festes Format ist unser Filmabend, der immer am letzten Donnerstag im Monat stattfindet. Dafür haben wir relativ am Anfang schon eine Lizenz eingekauft, weil man die Medien Buch und Film gut verbinden kann und es viele Literaturverfilmungen gibt. Wir können alle auf DVD erschienen Filme zeigen und nehmen gerne Anregungen entgegen. Ein weiteres festes Format ist unser Literaturkreis, der zwei Wochen nach unserer Gründung ins Leben gerufen wurde. Wir sind immer ca. 10 – 15 Leute und diskutieren gemeinsam über ein Buch, was wir vorher zusammen ausgesucht haben. Es ist immer eine schöne Runde und von 25 – 70 Jahren ist jedes Alter vertreten, manchmal ist sogar ein Mann dabei. Ansonsten haben wir viele unterschiedliche Sachen gemacht, zum Beispiel Autorenlesungen. 2015 kommen beispielsweise Martin Walker und Monika Zeiner. Anfang Dezember hatten wir eine Weinprobe mit einem Sommelier aus dem Ort, Gau-Algesheim ist ein Weinort. Also ein riesiges Thema, zu dem wir literarische Weinproben in der Buchhandlung machen. Oft gibt es auch Musik und wir haben literarisch-musikalische Abende. Anfang Mai wird dann auch unsere Küche das erste Mal eingeweiht. In Zusammenarbeit mit dem Leinpfad Verlag  bieten wir Tapas an und kochen vor Ort. Insgesamt hatten wir immer viel Glück. Viele Dinge ergeben sich einfach und die Leute haben Spaß, uns dabei zu unterstützen. Wir sind immer offen für Vorschläge und neue Ideen.

Gab es während des Gründungsprozesses Herausforderungen oder Schwierigkeiten?
Die einzige Herausforderung war tatsächlich die Baustelle. Das komplette Gebäude, in dem sich unser Ladengeschäft befindet, wurde kernsaniert. Das war unberechenbar. Wir hatten vier Eröffnungstermine, die wir alle wieder absagen mussten, weil der Boden fehlte. Dann war der Boden da, dann fehlte das Tor, usw. Dieser Prozess war sehr langwierig und dauerte länger als wir dachten. Wir standen sehr lange in den Startlöchern, es ging aber nicht los.
Die ersten Monate nach der Eröffnung waren auch anstrengend, da wir erstmal eine Routine finden mussten. Wir mussten überlegen, wie wir was machen, wie die Bücher stehen und welche Veranstaltungen es gibt. In diese Aufgaben muss man sich erstmal hereinfinden und das braucht ein paar Monate. Drei bis vier Monate nach der Eröffnung hatten wir das Gefühl, dass wir nicht mehr bei jedem Handgriff überlegen müssen, sondern dass sich langsam eine Routine einschleicht. Dann kam ja auch das Weihnachtsgeschäft, was richtig gut lief. Das war ein erster Gradmesser, ob die Leute uns annehmen. Aber es war ein tolles Weihnachtsgeschäft und wir wussten, dass unser Konzept funktioniert.

Wir fokussieren uns ja bei LITAFFIN auf junges Schreiben, kannst du uns zum Schluss noch eine junge Autorin oder jungen  Autoren empfehlen?
Ich kann euch „Das letzte Polaroid“ von Nina Sahm, einer jungen Autorin, empfehlen. Sie war im September bei unserer ersten Erwachsenenlesung und ist uns wirklich ans Herz gewachsen. Zudem ist es das erste Buch, was wir in unserem Literaturkreis besprochen haben Es geht um zwei Mädchen bzw. später junge Frauen, die sich im Urlaub am Balaton kennenlernen. Anna kommt aus einem gutsituierten Haushalt in München und freundet sich gleich mit der lockeren, witzigen Kinga an. Trotz des Misfallens seitens Annas Eltern halten die Mädchen über zehn Jahre eine Brieffreundschaft, bis Anna mit Mitte zwanzig einen Brief von Kingas Eltern erhält. In ihm steht, dass Kinga im Koma liegt. Anna reist nach Budapest, um ihrer Freundin beizustehen. Ich finde, es ist ein ganz wunderbares Buch mit einer tollen Freundschaftsgeschichte und einer unverhofften Wendung. Es liest sich sehr gut, hat eine schöne Sprache und taucht in verschiedene Welten ein. Die Autorin liest auch sehr schön und wenn man die Möglichkeit hat, auf eine ihrer Lesungen zu gehen, sollte man das nutzen.

HIER könnt ihr übrigens eine Rezension zu „Das letzte Polaroid“ auf Litaffin lesen.

Vielen Dank an Elisabeth für das Interview!

Wenn ihr mal in der Gegend seid, solltet ihr den beiden auf jeden Fall einen Besuch abstatten.

Eva Philippi

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