Nanu, malen auf dem Overheadprojektor? Fühlt man sich da nicht zurückversetzt in die Schule? In eine Zeit, in der es so etwas wie Overheadprojektor noch gab und die Welt irgendwie noch ganz anders aussah, womöglich sogar überschaubarer und einfacher? Genau um dieses Gefühl ging es bei der Leseperformance mit Jakob Nolte und der Gründung der Anachronistischen Jugend Berlin.
Ein eisiger Wind weht und ich irre durch den Wedding auf der Suche nach einer Tür. Ich finde sie in einem Hinterhof, das Schild mit der sympathischen Ente Wilma der Namensgeberin der Bar liegt im Schatten. Drinnen hat man dann das Gefühl, im Universum von Harry Potter gelandet zu sein. Im Dämmerlicht sieht man eine gemütliche kleine Bar, die an eine Höhle erinnert, es gibt überall etwas zu entdecken. Ebenso im oberen Raum, wo die Leseperformance stattfindet. Fünf Vortragende sitzen dort mit einem Gast gemütlich beisammen und plaudern. Der Zuschauerraum füllt sich, niemand weiß, was ihn oder sie erwartet.
Die Moderatorin Assunta Allegiani beginnt mit einigen wohlüberlegt pessimistischen Worten zur Gesamtsituation: „Kapitalismus, Neoliberalismus, Populismus — die Schurken der Neuzeit breiten sich aus.“ Vom Krieg in Syrien über den Brexit bis zur Wahl von Trump wird an einige internationale Brennpunkte erinnert, um zu dem Ergebnis zu kommen: „Die Säulen einer Welt aus Verstand drohen einzustürzen. Zum ersten Mal müssen wir schmerzhaft schätzen lernen, was wir nie nicht gehabt haben. Die Frage ist: Worauf sollen wir uns verlassen, wenn uns alles verlassen hat?“ Doch es soll keine düstere Jammerveranstaltung werden, wie die Moderatorin sofort schlagfertig zeigt: „Es wird also ein spaßiger Abend!“
Dann wird der Ehrengast vorgestellt, es folgen Interview- und Leseblöcke. Jakob Nolte ist mit seinem Kriminalroman Alff zu Gast. In diesem Buch liegt der Ursprung der Anachronistischen Jugend. Es geht um brutale Morde, die im Umkreis einer Highschool geschehen und das vermeintliche Gleichgewicht des kleinen Städtchens Beetaville auf den Kopf stellen. Jakob Nolte erklärt im Gespräch, dass er so viele amerikanische Highschoolserien geschaut habe, „dass ich darüber fast mehr weiß als über andere Dinge“. Dass er das Groteske an dieser Welt und dem Lebensgefühl einer Generation zwischen dem Tod von Kurt Cobain und dem 11. September intelligent auf die Spitze treibt und mit dem Plot eines Thrillers verbindet, sorgt nicht nur für reine Heiterkeit im Publikum. Wenn der Autor auf dem Overheadprojektor malend im Detail erklärt, wie das Einnähen einer Leiche in einen Zaun funktioniert, oder vorliest, wie sich Mädchen im Sportunterricht beim Lieblingsspiel des Sportlehrers gegenseitig grün und blau schlagen, gibt es im Publikum auch einige verwirrte und nervöse Lacher.
Einige der Jugendlichen finden sich im Roman zusammen und rebellieren gegen nichts weniger als die Gegenwart. Ihr Protestschrei besteht in der Gründung der Anachronistischen Jugend Beetaville, der Vorbildorganisation der Anachronistischen Jugend Berlin. Sie gehen davon aus, dass die Welt in fünf Jahren im Chaos versinkt und stellen sich eine zentrale Frage: Wann war das letzte Mal alles in Ordnung? Ganz klar: Vor dem Tod von Kurt Cobain. So beschließen sie, ab sofort nur noch in der Zeit vor dem 4. April 1994 zu leben. Sie legen sich strenge Regeln auf und kehren der Gegenwart, die jeden Moment Zukunft wird, radikal den Rücken, dem Motto folgend: „I hate myself and wanna die“. Ebenso radikal spalten sie sich damit auch von ihrem Umfeld ab und leben mit ihrem kleinen Zirkel in einer Zeit, in der alles scheinbar noch einfacher war. Doch ob das ihr Leben wirklich einfacher macht? Die Gruppenmitglieder meiden alle Orte, an denen zeitgenössische Musik läuft oder neue Kunst zu sehen ist. „Mit jedem Tag nimmt alles ab, woran man beteiligt ist. Das wird extrem schwierig nach einer Weile. Allein schon, was das Essen angeht.“, erklärt der Autor.
Trotzdem wollten die Gründerinnen der Anachronistischen Jugend Berlin den Versuch wagen, denn manch eine blickt skeptisch in die Zukunft: „Wohin soll das alles führen? Alternative Fake-News?“ Auch und vor allem in Berlin habe man allen Grund, nicht mehr an Zukunft und Fortschritt zu glauben: „Was ist das für eine Stadt, die nicht fähig ist, einen Flughafen zu eröffnen? Vielleicht sind wir einfach nicht zukunftsfähig.“ So haben die Gründerinnen beschlossen: „Wir entziehen uns der Welt im Jetzt.“
Doch eines fehlt noch: der Ausgangspunkt für eine alternative Zeitrechnung. Glücklicherweise endete der Abend an dieser Stelle jedoch nicht im Streit über (pop)kulturelle Persönlichkeiten und ihre Relevanz oder über politische Systeme, ihre Entwicklungen und Ursprünge, sondern mit einer fröhlichen Abstimmung: Was war der Anfang vom Ende? Die Kopfrasur von Britney Spears, der Kuss von Madonna und Britney, die Ankunft von Bubble Tea in Berlin oder die Einführung der Segwaytours auf dem Tempelhofer Feld? Das Ergebnis war eindeutig: „Wir hören ab heute mit der Zeitrechnung auf.“ Wer am Ende dann allerdings Zweifel am Erfolg dieses Unternehmens anmeldete, war ausgerechnet der Erfinder selbst. „Das ist ja eine extrem aggressive Art von Nostalgie und so entzieht man sich aller Verantwortlichkeit. Nostalgie ist eigentlich immer ein Zeichen von enormer Privilegiertheit. Aber wenn man sich von der Zukunft nicht vernichten lässt, also vor allem von der Untergangsstimmung einer intellektuellen Elite, finde ich das erst mal gut.“
Ist ein bisschen Realitätsflucht manchmal okay? Und wie viel ist zu viel? Abschottung ist natürlich selten eine gute Lösung, aber ist sie als Denkfigur wichtig? Über diese Fragen können sich alle Anwesenden, die sich fortan stolz als Mitglieder der AJB betiteln dürfen und dies sogar mit Mitgliederausweisen belegen können, bis zum nächsten Treffen Gedanken machen. Das wurde bereits für den 1. Februar 2018 angekündigt. Schwierig bloß, dass gemäß der strengen Richtlinien keines der Mitglieder dieses Datum anerkennen darf.
Noch im März erscheint das neue Buch von Jakob Nolte „Schreckliche Gewalten“ und wir dürfen gespannt sein, was dieses Buch nach sich ziehen wird. Immerhin kann dieser Autor von sich behaupten, mit seinem ersten veröffentlichten Roman die Gründung einer Organisation wie der AJB inspiriert zu haben.
Jakob Nolte
Alff
Matthes & Seitz Berlin
256 Seiten
- Lasst uns über Rassismus reden - 3. April 2019
- #7: Zeigt her eure Bücher! Indiebookday 2019 - 30. März 2019
- Von der Macht der Geschichten – das ilb 2018 - 4. November 2018