Die Frage danach, was einen guten Essay ausmacht, ist wie so viele Fragen der Geistesgeschichte eine Altherrenfrage: Michel de Montaigne wusste es – er wurde für seine Essays viel gerühmt – und natürlich wusste es auch Theoriegott Theodor W. Adorno. Der hat sogar (Spiegel im Spiegel!) einen Essay über die Kunst des Essays geschrieben. »Der Essay als Form« heißt er und ist eine Ode an diese Textform, die, mit Adorno, »in Freiheit zusammen denkt, was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand.« Der Essay ist also, so würde Enis Maci vielleicht sagen, das Produkt einer »folgenreichen Weigerung« . Von ihr kann man lernen, dass diese Textform längst keine Altherrenangelegenheit mehr ist und ein Essay schön, zart, poetisch, derb, klug und dabei sehr politisch sein kann – das zeigt die 26-Jährige in ihrem ersten Essayband Eiscafé Europa.
von Marie Kraja
Das kleine Bild im großen
Bisher hat Maci, Absolventin des Leipziger Literaturinstituts, hauptsächlich für das Theater geschrieben, was man dem Text in seiner collagenhaften Form und dem Mut zur großen Geste durchaus anmerkt. Insgesamt acht Texte inklusive langem und wildem Quellenverzeichnis versammelt der Band. Sie lesen sich wie ein Fernrohr mit Makrofunktion: Maci zoomt sich hinein, in die zarten Momente ihrer Kindheit zwischen Albanien und Deutschland, der klebrig düsteren Jugend im Ruhrgebiet, um dann abrupt wieder hinaus zu zoomen: In die Inszenierung von häuslicher Weiblichkeit auf Instagram, die Tradition der Schwurjungfrauen in Albanien, Bürgerwehren in Arnsdorf. Manchmal fügt sich das kleine Bild auf wundersame Weise in das große, manchmal bleibt es verlassen stehen, wirkt aber deshalb nicht weniger nach.
Ich baue mein Haus in die Lücken deiner Vorstellungskraft. Versäumen wir es, die Lücken zu hegen, müssen wir uns trennen.«
Was die Texte zusammenhält ist dabei paradoxerweise ihre Diskontinuität, das sprunghafte Denken und Fragen. Das zeigt sich auch in ihrem sehr eigenen Sound. Über Jungfrauen schreibt Maci im ersten Essay des Buches beispielsweise: »Die Unschuld verlieren heißt: ganz unverliebt werden, den Dingen gegenüber.« Und auf derselben Seite: »Genauer ist, dass der Mann durch seine Abwesenheit ihr [der Frau] eine Wunde in ihren Körper reißt, und diese Wunde heißt Fotze, denn das Geschlecht der Frau existiert ungefickt nicht.« Hashtag-talk, Poesie, märchenonkelhafte Aphorismen, politische Polemik und nüchterne Analyse fügen sich nicht zusammen, und das wäre wohl auch inkonsistent von jemandem, der sich dagegen weigert, aber sie funktionieren.
Das Netz als Obsession
Maci schreibt nicht nur vielsprachig, sie lebt und schreibt auch an vielen Orten. In ihren Essays isst sie Nusskuchen in Berliner Cafés, sitzt melancholisch vor dem Ihme-Zentrum in Hannover, lebt einen Sommer in Wien und passiert mit dem Regionalexpress (Bahncard 100 in der Westentasche) die »Crystal-Dörfer Frankens«. Meistens ist sie irgendwo dazwischen, an einem Unort und zugleich fast immer: im Internet. Das Netz ist die eigentliche Spindel ihres Webstuhls. Immer wieder finden sich zwischen eigenen Texten Zitate aus Blogs, Kommentarspalten und Zeilen aus Songtexten, die sie mühelos und lässig neben kanonische Autor*innen stellt. Die Dinge, die sie als Schreibende und Beobachtende beschäftigen, sind auch die Probleme der (hierarchisierten) Wissensproduktion, Tradierung und Archivierung im Netz. Ihre Obsession um Wissen und dessen Produktionsbedingungen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Essays. Dabei wird nicht weniger als die Idee einer allgemein gültigen Wahrheit verhandelt. Kann es so etwas geben in postmodernen Zeiten? Ist das Internet am Ende eine Archiv verzweifelter Versuche, gegen diese Zusammenhanglosigkeit anzukämpfen?
Schreiben in Brüchen
Was neben diesem Metadiskurs nun das eigentlich Thema der Essays ist, ist oft gar nicht klar, oder wird im Verlauf der Essays oft sogar dekonstruiert. Tatsächlich lässt sich wenig Gesichtertes über diese Texte sagen, außer dass sie dem Rechnung tragen, was auch Adorno über das essayistische Schreiben sagte: »Es entsteht in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet.«
Das heißt allerdings nicht, dass die Kategorien an sich zerfallen. Maci verfällt nie in eklektisches, postmodernes Geschwurbel. Im Gegenteil: Es geht sogar meist um genuin politische Fragen zu race, class, gender. Einer der Essays (to blend in / into sth) beschäftigt sich beispielsweise mit der digitalen »corporate identity«und Ideologieder Identitären Bewegung. In präzisen kultursoziologischen Beobachtungen beschreibt Maci wie rechte Instagramsternchen (z.B. Melanie Schmitz – aka »Rebellanie«) durch ihre warmweich-verführerisch inszenierte Weiblichkeit eine regressive »Semantik des Angenehmen« inszenieren, Hitler-Zitate inklusive.
Die Mitte ist kein Ort, sie bezeichnet eine verhältnismäßige Distanz zu dem, was in einem undurchsichtigen gesellschaftspolitischen Verfahren als Rand markiert wurde. Die Verortung der Ränder ist Gegenstand täglicher Kämpfe.«
In to blend in /into sth geht es aber auch um eine Teenagerfreundin namens Jette, mit der die Erzählerin auf dem Balkon sitzt, an Gelsenkirchner Theken säuft, Kaugummi kaut und die ihr ihre Essstörung verschweigt. Jette, die es nicht schafft aus dem kleinbürgerlichen Mief zu entkommen, die verloren geht und ihren Körper ebenso zurichtet wie die verhassten rechten Sternchen. Gibt es da also einen Zusammenhang? Meinte Maci das
Sie behauptet es nicht, sie beobachtet: Maci hangelt sich am Persönlichen entlang, nimmt angerissene Gedanken, Situationen aus dem eigenen Leben als Auslöser, um politische und moralische Fragen zu verhandeln. Das Persönliche ist trotzdem nie leitmotivisch, es geht hier nicht darum, sich »frei zu schreiben«, um etwa die eigenen Identitätsprobleme zu durchforsten. Widersprüche bleiben unkommentiert stehen, eben weil die Realität widersprüchlich ist. Und wenn sie über ihre Oma sagt, sie habe den Feminismus entdeckt (»es ist gut, das Schwein in den Wind zu schießen!«) und diese dann im selben Atemzug erklärt nach drei Versuchen (à Schweine) sei man dann aber definitiv ein Flittchen, ist damit eigentlich auch alles gesagt.
Das gilt nicht nur für Gender und hegemoniale Männlichkeit – es finden sich hier fast alle großen Themen: Literatur, die Unmöglichkeit einer Heimat, Religion, Ideologie und Politik. Wer Antworten sucht, wird Abgründe finden und dabei auf mehr als eine souveräne Absage an die Idee des zusammenhängenden, gut gebügelten Textes stoßen. Oder, um Maci das Wort zu geben: »Die Frage worin der Mehrwert des Erzählens liegt, wird offenbleiben. Darin liegt ihre Gefahr.«
Enis Maci, Eiscafé Europa, edition suhrkamp, Taschenbuch, 240 Seiten.
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