Vielfalt durch Lesen © Sofie Mörchen

Vielfalt durch Lesen

Der Berliner binooki Verlag startete vor einiger Zeit die Kampagne #vielfaltdurchlesen. Zahlreiche Personen und Institutionen haben sich bereits beteiligt und wir schließen uns an: Die Litaffin-Redaktion stellt ihre persönlichen Favoriten zum Motto ‚Vielfalt durch Lesen. Vielfalt durchlesen‘ vor.

Vielfalt durch Lesen © Sofie Mörchen
Vielfalt durch Lesen © Sofie Mörchen
Vielfalt durch Kochen – von Leonie
Vielfalt durch Lesen: Dodo Liadé, Vodoo Food © Leonie Hohmann
Vielfalt durch Lesen: Dodo Liadé, Vodoo Food © Leonie Hohmann

Als Dodo Liadés Kochbuch Vodoo Food – Magie der afrikanischen Küche erstmals im Frühjahr 2017 auf meinem Schreibtisch landete, dachte ich nicht an Vielfalt. Sondern an Stereotyp, Klisché und Vorurteil. Ein Blick in den Schutzumschlag des Kochbuchs und nicht zuletzt ein Interview mit dem Autor, konnten meine Skepsis jedoch aus dem Weg räumen: Der Ivorer hat bei Reisen durch mehr als 20 afrikanische Länder Rezepte gesammelt und ganz genau darauf geachtet, was im Kopftoch landet. So bietet das Kochbuch als eine Art kulinarischer Reiseführer Informationen zur Esskultur der Länder und der Provenienz der Gerichte. Das Kochbuch besticht durch überschaubare Zutatenlisten, auch für Einsteiger*innen umsetzbare Rezepte und seine hochwertige Ausstattung mit den herrlichen Illustrationen von Zsuzsanna Ilijin. Dass diese kulinarische Vielfalt in deutscher Sprache gebündelt zugängig ist, ist dem Engagement des Autors zu verdanken: Liadé brachte das Kochbuch im Selbstverlag heraus, nachdem seine Buchidee mit dem Kommentar „Länder, die von Hungersnöten geplagt sind, haben keine Esskultur“ von verschiedenen Verlagen abgelehnt worden war, berichtete mir der Koch im Gespräch im Frühjahr 2017. Mein Portrait über Herrn Liadé erschien in LoNam das Afrika-Magazin (Printausgabe Juni 2017).

Dodo Liadé, „Vodoo Food. Magie der afrikanischen Küche“, illustriert von Zsuzsanna Ilijin, Verlag Dr. Liadé 2013.

 

Vielfalt durch Panels – von Angie
Vielfalt durch Lesen: Shaun Tan, The Arrival © Angie Martiens
Vielfalt durch Lesen: Shaun Tan, The Arrival © Angie Martiens

Shaun Tans Graphic Novel „The Arrival“ erzählt – gänzlich ohne Worte – die Geschichte eines Mannes, der Frau und Kind in der bedrohten Heimat zurücklassen muss, um ein neues, sichereres Zuhause für seine Familie zu suchen. Es ist die Geschichte einer Reise, einer Migration, einer Flucht in ein Phantasieland, das für den Protagonisten genauso seltsam wirkt wie für uns Leser*innen. Durch den Wegfall der Worte durchleben wir ähnliche Erfahrungen wie der migrierende Protagonist: Man kennt die Buchstaben jener neuen Gesellschaft nicht, die für einen wie geheimnisvolle Symbole aussehen; man wundert sich manches Mal über die neue Welt und ihre Gepflogenheiten; man versteht zunächst nicht, was die Einheimischen von unserem Protagonisten wollen, wenn sie ihn ansprechen. Für seine phantasievolle, detailverliebte und einfach nur grandiose Bildwelt ist Shaun Tan bekannt und in „The Arrival“ nutzt er seinen einmaligen Stil, um die menschliche Erfahrung der Flucht in einem universellen Stil zu vermitteln. Ein Buch, das überall auf der Welt einfach ohne Übersetzung gelesen werden kann und ein Buch, das eine auf der ganzen Welt relevante Thematik zeichnet.

Shaun Tan, „The Arrival“, Arthur A. Levine Books/Scholastic Inc. 2006.

 

Vielfalt durch Desintegration von Charlotte
Vielfalt durch Desintegration: Max Czollek, Desintegriert euch! © Charlotte Steinbock
Vielfalt durch Desintegration: Max Czollek, Desintegriert euch! © Charlotte Steinbock

Der Antisemitismusforscher Max Czollek plädiert in seinem Buch „Desintegriert euch!“ für radikale Vielfalt, denn darin liegt eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben. Im Widerspruch dazu steht für Czollek die Integration. Speziell untersucht hat er das Integrationskonzept anhand von dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Hier diagnostiziert er ein Gedächtnistheater, in dem alle eine Rolle spielen, ohne dass eine wirkliche Auseinandersetzung oder gar Aufarbeitung stattfindet. Dieses Gedächtnistheater dient vor allem dazu, das Gewissen der Deutschen zu entlasten und ihrem Bedürfnis nach Normalität nachzukommen. Dadurch entstehen blinde Flecken, in denen Antisemitismus, Vorurteile und nationalistische Ideen wachsen und gedeihen können, so Czolleks Analyse.

Czollek schreibt flott und provokant. Besonders spannend wird das Buch durch die Mischung aus historischen und sozialen Analysen, Polemik, Wut und persönlicher Betroffenheit. Ein Buch, das mich noch lange beschäftigt hat, weil es uns alle angeht, wie wir miteinander umgehen, Geschichte aufarbeiten, Identitäten konstruieren und vor allem welche Macht nationale und politische Erzählungen haben. Ein Buch, das seine Leser*innen aufrüttelt und herausfordert und so ein guter Ausgangspunkt für Perspektivwechsel und produktive Debatten sein kann.

Max Czollek, „Desintegriert Euch!“, Hanser Verlag 2018.

 

Vielfalt durch die Landschaft – von Marie
Vielfalt durch die Landschaft: Daniela Danz, Serimunt © Marie Kristin Gentzel
Vielfalt durch die Landschaft: Daniela Danz, Serimunt © Marie Kristin Gentzel

Wenn es um vielfältige Literatur geht, darf es an Lyrik nicht fehlen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie wie bei der Autorin Daniela Danz zugleich ortsspezifisch und doch universell lesbar ist:

Fremd bin ich hier/ an einheimischen Ort/ jähling trifft ihn die Frage/ hier bin ich geboren/ sagt er hab ich gelebt/ heimisch war ich bei einer Rast/ stätte am Weg wo ich fremd/ bleibe begrabt mich

Im aktuellen Kontext schwingt in diesen Versen die Flucht- und Migrationsthematik ebenso mit, wie die persönliche Wanderschaft jedes Einzelnen. Vordergründig widmet sich Danz in ihrem ersten Gedichtband „Serimunt“ aber ihrer Wahlheimat, deren Vergangenheit und Geschichten sie lyrisch portraitiert. Ihre Verse vermitteln teils abstrakte, teils ganz plastische Erfahrungen, und erlauben es so, sich achtsam selbst durch die Landschaft zu tasten. Wir werden Augenzeugen einer Sprengung, spüren den Lehm der Wege an den Sohlen und erfühlen landschaftliche Strukturen von „Sandstein“ bis „Kein Stein“.

Auf dem Weg werden historisch-mythologische Räume ebenso wie ganz persönliche Bereiche durchquert: ein Zimmer, eine Kindheitserinnerung, ein Selbstgespräch. Wie Stationen auf einer Reise stehen die einzelnen Gedichte dabei miteinander in Beziehung. Nicht selten ist der wandernde Leser ein Fremder, Nicht-Verstehender, in dieser lyrischen Welt, die von verschlüsselten Anspielungen wimmelt. Wer weiß schon heute noch, dass „steilrecht“ im 18. Und 19. Jahrhundert als Bezeichnung für vertikale Landschaftselemente gebräuchlich war? Glücklicherweise kann und will die Lektüre ihren Leser*innen kein umfassendes Vorwissen abverlangen, vielmehr erlaubt es „Serimunt“ die unter der Landschaft verborgenen Bedeutungsräume zu erahnen. Erst nach und nach enthüllt sich dann eine auf ausführlichen Recherchen der Autorin fußende Charakteristik des Geländes. Bis in veraltete Sprachstrukturen und wieder zurück zur Gegenwart folgen wir ihren Entdeckungen. Langsam wird „Serimunt“ zu einer inneren Landschaft, die sich überall mithin nehmen lässt.

Daniela Danz, „Serimunt. Gedichte“, Edition Muschelkalk der literarischen Gesellschaft Thüringen e.V., Band 14, Wartburg Verlag 2004.

 

Vielfalt durch Anerkennung – von Sandra 
Vielfalt durch Anerkennung: Emilia Smechowski, Wir Strebermigranten © Sandra Kućmierczyk

In Deutschland wird, zum Glück, viel über Migration gesprochen. Dabei geht es aber oft nur um die damit verbundenen Konflikte und darum, wie Integration besser gestaltet werden muss. Was bei dieser Debatte aber selten erwähnt wird, sind die Bevölkerungsgruppen, die sich schon bis zur Selbstaufgabe in die Gesellschaft einfügen,


ohne weiter aufzufallen. Das sind zum Beispiel die Polen.

Emilia Smechowski, die unter dem Namen Śmiechowski im polnischen Städtchen Wejherowo auf die Welt kommt, erzählt in „Wir Strebermigranten“ die Emigrationsgeschichte ihrer eigenen Familie nach Deutschland. Ihre Geschichte steht stellvertretend für eine ganze Generation, die als Wirtschaftsflüchtlinge in den 80er und 90er Jahren in die BRD kam. Meistens vom Glauben begleitet, alles Polnische, ergo Minderwertige, abstreifen zu müssen. So auch Emilias Eltern. Sie sind vom Ehrgeiz gepackt, deutscher und erfolgreicher als die Deutschen selbst zu sein und verbieten ihren Töchtern sogar, in der Öffentlichkeit Polnisch zu reden. Als Erwachsene beginnt Smechowski jedoch, ihren Wurzeln nachzuforschen und sich ihre Herkunft und Muttersprache zurück zu erkämpfen.

Sich der Vielfalt unserer Gesellschaft zu widmen, bedeutet auch, den Menschen, die seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft leben, Anerkennung und Interesse zu schenken ohne von ihnen zu verlangen, ihre Vergangenheit und Herkunft abstreifen zu müssen. Dieses Buch ist außerdem ein guter Anfang, um den Kopf vom Westen ein wenig mehr in den Osten zum anderen Nachbarn zu richten.

Emilia Smechwoski, „Wir Strebermigranten“, Hanser Berlin 2017.

 

Uns interessiert: Welches Buch steht für Euch für Vielfalt?

Angie Martiens
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