Anm. d. Red. [06.03.2018]: Der Autor des folgenden Beitrags, Johannes Schüller, schrieb in den Jahren 2010 und 2011 für Litaffin. Mittlerweile bewegt er sich in rechtspopulistischen Kreisen und gilt als Mitbegründer der Identitären Bewegung in Deutschland. Wir, die Litaffin-Redaktion, wollen uns hiermit ausdrücklich von Johannes Schüller und jeglichem rechten Gedankengut distanzieren.
Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) gab letzten Mittwoch einen Vorgeschmack auf die diesjährige Programmgestaltung: Der chinesische Flüchtling Liao Yiwu stellte Für ein Lied und hundert Lieder – ein Bericht aus chinesischen Gefängnissen im Haus der Berliner Festspiele vor. Der Roman thematisiert die brutalen Realitäten der vierjährigen Haftzeit, zu der der Autor wegen des Gedichts Massaker verurteilt wurde.
Ein Artikel von Elena Klug und Johannes Schüller
Es begann doch alles etwas chaotisch mit Begrüßungsworten und Einführungen, deren Redner allesamt versäumten sich vorzustellen. Die Verwirrung wurde erst nach 45 Minuten von Moderator Tilman Spengler mit seiner charmant-brummigen Art gelöst. Rückwirkend stellte er den Künstlerischen Leiter des ilb, Ulrich Schreiber, Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und die chinesische Autorin und Übersetzerin ins Deutsche, Tienchi Martin-Liao, vor.
Herta Müller: Juli Zeh unterstützt die chinesische Diktatur
Mit der grandiosen thematischen Einführung von Herta Müller fand der Abend früh seinen ersten Höhepunkt: Vor allem diejenigen, die über politische Ungerechtigkeiten, Zensur und Willkür sprechen wollten, wurden hier nicht enttäuscht. Herta Müller wies auf Parallelen zwischen der Veröffentlichung von Liao Yiwus Bericht und der 1957 erfolgten Publikation von Boris Pasternaks Doktor Schiwago hin. Yiwu musste aufgrund von wiederholter Beschlagnahmung durch die chinesische Regierung seine Erinnerungen dreimal neu niederschreiben. Auch Pasternak musste sein Manuskript aus der Sowjetunion schmuggeln lassen, damit Giacomo Feltrinelli die Veröffentlichung im Ausland bewirken konnte. Gemeinsam haben die beiden Werke eine realistische Darstellung der Lebensumstände eines Intellektuellen in undemokratischen Staaten – Zensur, Verhör und die Festnahme von Angehörigen sind auch über 50 Jahre nach Doktor Schiwago noch die gängige Antwort einer Regierung, der der Ausbruch eines Bürgerkriegs im Nacken sitzt. Umso unverständlicher erscheinen die Worte Juli Zehs, auf die Herta Müller hinwies. Bei einem Besuch in China zeigte Zeh Verständnis für die gängige Zensur, da diese ein wirksames Mittel sei, den Ausbruch eines Bürgerkriegs zu verhindern.
Für Liao Yiwu blieb die Flucht nach Deutschland ein „bitteres Glück“
Wer also die Biographie Liao Yiwus etwas kennt, erwartet einen gebrochenen Mann. Vier Jahre in vier chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern, Überwachung, Erniedrigungen durch Stromstöße und sadistische Wärter müssen ihre Spuren hinterlassen haben. Yiwus Überlebenstechniken waren auf ein Minimum beschränkt, Schreibmaterial erhielt er nur für wenige Stunden. Ihm blieb zumeist nur das Beobachten – also auch das, was die Grundlage jeder literarischen Schöpfung bildet. Herta Müller nannte seinen Zeugenbericht Für ein Lied und hundert Lieder eine „großartige Erinnerungsleistung”, deren Meisterschaft gerade in der normalisierenden bis nüchternen Reproduktion des Erlebten besteht. Das distanzierte Beobachten während der Haft habe es Yiwu ermöglicht, sich für kurze Zeit aus dem Sadismus auszuklammern, von oben auf den Schrecken zu blicken. Doch gerade durch diese erzählerische Distanz gewinne der Schrecken in seinem Zeugenbericht der Inhaftierung, Für ein Lied und hundert Lieder, an Gestalt, betont Müller. Immer wieder wurde an diesem Abend wiederholt, wie froh man ist, dass Liao Yiwu die Flucht nach Berlin gelungen ist. Doch Herta Müller bezeichnete dies als „bitteres Glück“ und versuchte Yiwu mit dem „Konjunktiv der Heimatlosen“ Trost zu spenden: „Du hättest doch nie werden wollen, wie du hättest werden müssen, wenn du hättest bleiben wollen.“
Massaker: Die lyrische Voraussage des Blutbads auf dem Tian’namen-Platz
Als Liao Yiwu zum ersten Mal die Bühne betrat, wirkte er ein wenig verloren in seiner äußeren Schlichtheit. Seine Kleidung erschien betont karg, auffällig war nur ein Halsband, an dem ein gelber Ring baumelt. Der Kopf blieb kahl rasiert, unweigerlich fügte sich seine Erscheinung in die zuvor erzeugten Bilder des angedeuteten chinesischen Gefängnisalltags. Yiwu verbeugte sich höflich vor dem europäischen Publikum. Doch während der Zuschauer sich auf einen Gedicht-mit-Wasserglas-Vortrag einstimmte, rieb Yiwu mit einem Schlägel an den Rändern einer goldenen Schale. Hohe, metallene Töne drangen durch den Saal. Yiwu schloß die Augen und schrie kraftvoll ins Mikro. Was als Geschrei begann, ging schnell ins Singen über. Auch bei Zuschauern ohne Chinesischkenntnisse wirkte sein Vortrag nach. Und so hatte der deutsche Sprecher Frank Arnold reichlich Mühe, die Ausdruckskraft des Gedichts Massaker auch nur annähernd zu vermitteln. In Massaker hatte Yiwu lyrisch ein Blutbad angekündigt, wenige Stunden vor den Ereignisse vom 4. Juni 1989 auf dem Tian’namen-Platz. Nach heutigen Schätzungen wurden damals 300 bis 3000 Anhänger der chinesischen Demokratiebewegung ermordet.
Flötenspiel statt Politik
Das Gespräch zwischen dem Journalisten sowie Sinologen Tilman Spengler und Liao Yiwu gestaltete sich aufgrund der mühseligen Übersetzungsarbeit etwas schleppend. Auch inhaltlich irritierte der eigentlich sehr politische Moderator mit Fragen, die sich offensichtlich um kritische Themen und politische Stellungnahme wanden. Das überraschte: Tilman Spengler war an der Vorbereitung der Ausstellung Kunst der Aufklärung im chinesischen Nationalmuseum in Peking beteiligt. Im März 2011 wurde Spengler wegen seines Einsatzes für Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und andere Dissidenten die Einreise nach China als Begleitung von Außenminister Westerwelle verwehrt. Westerwelle eröffnete während des China-Besuches trotzdem die Ausstellung. Doch Spengler schwieg an diesem Abend zu der sich aufdrängenden politischen Dimension von Für ein Lied und hundert Lieder. Als großes Thema des Abends hatte man das Flötenspiel ausgewählt, das ihm neben der Dichtung als alternative Überlebenstechnik während der Haftzeit diente. Wie schon beim Rezitieren des Gedichtes, kontrastierte auch beim beklemmend traurigen Flötenspiel Yiwu schlichtes Erscheinungsbild stark die Vehemenz und Kraft von Yiwus Vortrag. Und zugleich zeigt es, dass es Dichtung und Musik waren, die ihn überleben ließen.
Ob man den Abend also als eine gelungene Veranstaltung empfinden konnte, hing stark von den Erwartungen ab, die man an die Lesung eines politisch Verfolgten stellt. Viele Besucher bezeichneten das Erlebte als „wirklich nett“. Angesichts der deutlich unpolitischen Veranstaltung bleibt es jedoch fraglich, ob ein Erfahrungsbericht wie Für ein Lied und hundert Lieder nur in einen „netten“ Rahmen gezwängt werden kann. Lediglich Herta Müller schlug einen kritischen Ton an und erinnerte an die Zahl noch inhaftierter Dissidenten in China.
- „Bitteres Glück“: Liao Yiwu beim Internationalen Literaturfestival Berlin - 21. August 2011
- Grenzgänger: Das journalistische E-Book - 24. Juni 2011
super artikel, danke euch beiden. ich fands auch sehr schade, wie wenig textnah die lesung war. die aspekte waren alle sehr interessant, aber hätten nicht so ausgedehnt werden müssen, dass das buch dabei völlig in den hintergrund gerät. die argumentation spenglers kaum übers buch zu reden, weil man einen auschwitz-überlebenden ja auch nicht fragt, wie es dort gewesen ist, fande ich auch etwas dünn. es wären in zusammenhang mit dem buch bestimmt spannende, tiefer gehende fragen aufgekommen, die einen befriedigter aus dem abend entlassen hätten.
Genau -- gerade die fadenscheinige Argumentation von Tilman Spengler hat mich geärgert. Als ob eine platte „Wars schlimm im Gefängnis“-Frage der einzige Weg wäre, mit diesem Thema umzugehen… Zum Glück gab es Herta Müller!