Der 18. Open Mike Wettbewerb für junge, deutschsprachige Schriftsteller startete heute in Berlin. Es summte und brummte in der WABE – vor zahlreichen Interessierten sowie Agenten und Lektoren lasen die Nachwuchstalente aus ihren eingereichten Texten. Mal mehr, mal weniger überzeugend.
Die WABE – ehemals städtisches Gaswerk, heute ein verschachtelter Veranstaltungsort aus Klinkersteinen – war summend voll mit einer bunten Mischung aus Literaturbegeisterten. Im Publikum trafen eingesessene, schwarzumrahmte Brille tragende Lektortypen auf in Moleskin Heften schreibende Studenten, der eine oder andere saß in Adidasjacke oder mit einem Motorradhelm auf dem Schoß da. Weniger bunt (zumindest optisch) ging es unter den Autoren zu, die meisten Vortragenden trugen Grau, passend zur Farbe des diesjährigen Open-Mike-Flyers. Die Texte spielten auffallend oft in Berlin, es gab zahlreiche Tiere und erstaunlich viele verletzte Hände. Morgen wird sich zeigen, wer sich von den anderen abheben konnte: Unter den 20 Finalisten werden drei Preise verliehen.
Stephan Reich weihte die erste Runde mit seinen stillen, klaren Gedichten ein, die perfekt zu dem dunklen Herbsttag passten: „draußen in dämmernde tage ich / fühle sie nicht ich bin hier und die / negation aller farbe am himmel und / hier und da bäume in zwiegespräch rauschen ihr klagelied…“. Ihm folgte Martina Bögl mit einer Berliner Geschichte, in der ein Stück Wildnis in der Verkörperung eines Fuchses mitten in der Großstadt auftaucht. Ihre ernste, schlichte Leseart ließ Raum für die Fantasie der Zuhörer. Zum Abschluss des ersten Blocks betrat Jasmin Seimann die Bühne. Als ausgebildete Tänzerin ist sie das Rampenlicht gewöhnt; souverän las sie ihre berührende Geschichte über den invaliden Herrn Peichel, dessen Selbstzweifel und Sehnsucht nach Nähe.
Die zweite Leserunde eröffnete Jan Snela mit einem knallenden Text voller Alliterationen und Wortwitz. „Die Tankstelle war ein schon von Weitem zu spürendes Glimmen von kleinen Stängeln, ein Pulsen des Safts in den Schläuchen … ein in Gesichter geschriebenes Bangen, das Geld möge reichen, Verfluchung von Scheichen, Herumstehen an Teichen, in denen kein Fisch schwamm.“ Mit seinen zungenbrechenden Wortkaskaden und seiner humorvollen Art gewann er das Publikum für sich und wurde mit herzlichem Applaus von der Bühne verabschiedet. Isabella Antweilers feinfühlig formulierte Gedichte dagegen wurden durch das Vorlesen nicht so lebendig, dennoch verliehen die geflüsterten Lesehinweise und andere Elemente ihrer Lyrik Charakter. Levin Westermann folgte mit einem weiteren Lyrikbeitrag, der Gefühle durch Körpermetaphern erkundete. Seine leise Stimme lieferte starke Motive, „eine Frau trägt einen falschen Schatten“.
Nach einer längeren Pause – eine Frau neben mir beschwerte sich über die „Prestige-Scheiße“ der Veranstaltung, weil so viele Schriftsteller im 15-Minutentakt nacheinander lasen – ging der Wettbewerb in die dritte Runde. Susan Krellers Geschichte „My Huckleberry Friend“, schlicht erzählt aus der Perspektive eines alten Witwers, kam durch die angenehme Stimme der Autorin sehr gut rüber. Janko Marklein, der Jüngste unter den Bewerbern, folgte. Ein Lektor stellte seinen Text vor als eine „empathiefreie Darstellung einer Dorfjugend“, und dies gelang Marklein durch seine surrealen Beschreibungen und seine ironisch-trockene Vortragsweise. Im Gedächtnis bleibt sicherlich die Beschreibung des hässlichen Mädchens, dessen Augen „wie bei einem Fisch“ hervortreten, was zum noch hässlicheren Rufnamen „Fischauge“ und weiteren Hänseleien führt. Anschließend beeindruckte Julia Trompeter mit komplexen Erzählschichten und einem einzigartigen Ton in ihrem literarischen Tribut an Thomas Bernhard in ihrer Geschichte „Die Mittlerin“. Mein persönlicher Allerlieblingsauftritt des Abends folgte Trompeter, und war auch die letzte Autorin des Abends: Judith Keller las aus 18 skurrilen Prosaminiaturen vor. Die Lektorin stellte die Texte als „abgrundtief vergnüglich“ vor, und das Publikum stimmte mit Begeisterung dieser Meinung zu. Keller verdankt dieser Abend die Einsicht, welchen Unterschied doch ein einziges Komma machen kann: „Begnadige nicht, hinrichten!“ oder „Begnadige, nicht hinrichten!“ – so viel Genauigkeit muss sein.
Ausdauernd musste man sein, um allen 12 Finalisten aufmerksam zu lauschen. Ich fand es aber in jedem Fall lohnenswert und kann nur empfehlen, morgen die Chance zu nutzen, beim zweiten Tag des Open Mike dabei zu sein.
Fotos: Joy Hawley
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Die Sache mit den verletzten Händen ist glaub ich neu. Bin gespannt auf den heutigen Tag!