Nach knapp fünf Jahren Romanpause meldet sich Benedict Wells mit Vom Ende der Einsamkeit zurück. Spannend und gefühlvoll beginnt seine Erzählung von der Brüchigkeit des Glücks – doch schon bald überstrapaziert der Autor seine Kräfte.
Mit gerade mal 23 Jahren wurde Benedict Wells 2008 jüngster Verlagsautor bei Diogenes. Ein Jahr nach seinem Debüt Becks letzter Sommer erschien sein bis dato unveröffentlichter Erstling Spinner und wiederum zwei Jahre später stand Fast genial monatelang auf der Bestsellerliste. Seitdem steht der Autor hoch in der Gunst des Feuilletons, von Literaturkritikern als „literarisches Wunderkind“ (LiteraturSpiegel), „Ausnahmetalent“ (ZDF heute-journal) und „Senkrechtstarter“ (NZZ) gefeiert. Sein nun erschienener vierter Roman Vom Ende der Einsamkeit wurde bereits mit Spannung erwartet.
Spannung erzeugen, das versteht Benedict Wells wie kein Zweiter. Bereits in seinem Einstiegssatz beweist der Autor, dass er die Möglichkeiten dramaturgischer Erzählprinzipien gezielt einzusetzen weiß: „Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich“, denkt Jules nach einem schweren Motorradunfall, bevor er die einzelnen Etappen seiner Vergangenheit Revue passieren lässt. Obwohl er chronologisch erzählt, werden die tragischen Ereignisse immer wieder durch unheilschwangere Andeutungen vorweggenommen. Das erzeugt Spannung – und birgt die Gefahr, in Vorhersehbarkeit und Trivialität abzudriften.
Bis jetzt war mein Leben behütet verlaufen, aber offenbar gab es unsichtbare Kräfte und Strömungen, die alles schlagartig verändern konnten. Denn es schien Familien zu geben, die vom Schicksal verschont blieben, und andere, die das Unglück auf sich zogen, und in dieser Nacht fragte ich mich, ob meine Familie auch so eine war.
Bereits im Alter von gerade mal acht Jahren hat Jules ein erstaunliches Gespür für das herannahende Unheil. Er soll Recht behalten: Die Karten werden neu gemischt, als die Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen. Er und seine älteren Geschwister Marty und Liz müssen aufs Internat und plötzlich ist jeder auf sich gestellt. Wie Schiffbrüchige driften sie auseinander und verlieren sich aus den Augen. Nur mit der geheimnisvollen Alva freundet sich Jules an. Doch während dem Leser schnell klar ist, für wen Jules’ Herz schlägt, gesteht er sich seine Gefühle erst ein, als sie längst getrennte Wege gehen.
Nach jahrelanger Funkstille treffen sich die Geschwister wieder und stellen fest, dass die Katastrophe ihrer Kindheit sie noch immer zu einer unfreiwilligen Schicksalsgemeinschaft macht. Alle drei werden von der Vergangenheit eingeholt: Marty, der geniale Nerd, macht Karriere als Internet-Pionier, schafft es jedoch nicht, Ticks wie das mehrfache Drücken der Türklinke abzulegen. Liz balanciert am Abgrund, lotet ihn mit Drogen- und Männergeschichten aus und trennt sich ständig von ihren Freunden, um nicht selbst verlassen zu werden. Jules, früher draufgängerisch und selbstbewusst, wird über die Jahre zu einem unsicheren und introvertierten Einzelgänger.
Obwohl die Geschwister auf unterschiedliche Art mit ihrem Schicksal hadern, wirken ihre Charaktere gerade in ihrer Gegensätzlichkeit konstruiert und eindimensional. Wells arbeitet ihren Wesenskern heraus, um anschließend die Frage aufzuwerfen, ob wir dem Schicksal ausgeliefert sind wie ein Fähnchen dem Wind. Doch leider gibt der Autor die Antworten immer wieder selbst, zum Beispiel, indem er Jules konstatieren lässt: „Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind: Man weiß nie, wann er zuschlagen wird“.
Besticht Wells Roman zunächst durch seinen lockeren Erzählfluss, wird die oft detaillierte Beschreibung der Lebensabschnitte spätestens in der zweiten Hälfte des Buches redundant und gleitet in Allgemeinplätze ab. Zwar öffnet sich mit der Wiederbegegnung von Jules und Alva ein neuer Erzählstrang, eine neue Ebene kann jedoch nicht gewonnen werden. Stattdessen wird die Handlung weiterhin durch wenig subtile Andeutungen vorweggenommen. Etwa als Alvas Ehemann, ein alternder Schriftsteller, Jules seinen Waffenschrank zeigt:
Seine Fingerkuppen berührten den Gewehrlauf (…) Er legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir ins Gesicht. Dann wandte er sich abrupt ab „Aber wehe du bumst sie“ (…) Ich schwieg und betrachtete die Schusswaffen, dann ihn.
Dass er die Waffe später nicht gegen Jules, sondern gegen sich selbst richtet, ändert nichts an der Trivialität der Szene. Auch als Jules und Alva doch noch zueinander finden, nimmt Wells vorweg, dass ihr Leben eben kein Nullsummenspiel ist, in dem sich am Ende alles ausgleicht. Beinahe ungläubig, ob dieser Erkenntnis noch etwas folgen wird, lesen wir weiter bis zum pathetischen Ende. Doch weder überrascht der säuberlich angelegte Plot mit Wendungen, noch gibt Wells dem Leser Raum und Luft für Ausdeutungen. Stattdessen lässt er seinen Protagonisten die Botschaft in Form vakuumverpackter Lebensweisheiten resümieren, die in ihrer Fülle oft unglaubhaft wirken.
Freundschaft, Liebe, Schicksal, Tod und Leben – Wells nimmt sich die ganz großen Fragen vor, scheint jedoch zu viel auf einmal zu wollen: Der Roman erzählt nicht nur eine Lebens-, sondern zugleich eine Liebesgeschichte, nicht nur einen Schicksalsschlag, sondern mehrere. Unter der Last von Gefühlen, Katastrophen und philosophischen Versatzstücken erstickt die Geschichte und schafft es nicht, über die Beschreibung stereotyper Charaktere und abgegriffener Schicksale hinauszukommen. Mitunter hätte weniger Eindeutigkeit mehr Wirkung erzielt.
Benedict Wells
Vom Ender der Einsamkeit
Diogenes, 368 Seiten
- Im Niemandsland - 18. September 2016
- Gelernt und nicht verloren - 5. Juli 2016
- Vakuumverpackte Lebensweisheiten - 13. Juni 2016