Buchmessen sind wie Ufos – einmal drin, ist man ständig an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit und verliert zusehends die Orientierung. Zum Glück, möchte man da sagen, hören sie irgendwann wieder auf. Um die Erfahrungen und Entdeckungen der Leipziger Buchmesse irgendwie abbilden zu können, hat sich unser Autor zum Führen eines Protokolls entschieden. Dieses wird im Laufe der Messe so oft wie möglich erweitert und überarbeitet…
1. Mittwoch, 12.03.14: Lyrikbuchhandlung
Angekommen in Leipzig. Essen eingekauft. Quartier bezogen in der Nähe des Hauptbahnhofs. Salat zum Abendbrot. Gegen 18.30 entschließe ich mich, den Weg zur ersten Veranstaltung dieses Jahr zu laufen. Als ich etwa eine Stunde später in der Plagwitzer Lyrikbuchhandlung ankomme, stelle ich fest, dass die Tram vielleicht doch die bessere Alternative gewesen wäre. Der Raum, außerhalb des Messezirkus‘ eine kleine Galerie, ist voll mit Menschen – fast alle kennen und begrüßen sich. Der Abend beginnt pünktlich, das Programm soll bis 00.30 gehen. Schon jetzt ist klar, dass ich nicht bis zum Schluss durchhalten werde. Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt eröffnen das Programm mit einer Performance. Dabei zwinkern sie dem Publikum zu, begrüßen jeden und beginnen dann folgenden Dialog:
Im Anschluss daran greifen sie sich verschiedene Bücher vom mittig im Raum positionierten Büchertisch und lesen Passagen daraus vor. War das geprobt?, frage ich Martina Hefter später draußen. „Wir haben das zu Hause schon geprobt, allerdings immer mit den selben vier Büchern. Und wir haben da auch nicht wirklich draus vorgelesen, vielmehr so getan als ob. Die Situation war hier natürlich jetzt ganz anders. Wir haben die Bücher ja mit geschlossenen Augen ausgewählt.“ Für mich ist es jedenfalls ein unterhaltsamer Einstieg in den Abend, an dem u.a. Valeri Scherstjanoi, Eberhard Häfner, Mikael Vogel, Stephan Reich, Tristian Marquardt und Daniela Seel lesen.
Edition Poeticon: Während einer Pause entdecke ich noch zwei kleine Bücher aus der neuen Reihe „Edition Poeticon“ des Verlagshauses J. Frank, das eine mit dem Titel „Geschichte“ von Jan Kuhlbrodt, das andere mit der Aufschrift „Gruppendynamik“ von Betram Reinecke. Auf der Rückseite fragen die von Asmus Trautsch herausgegebenen Bändchen: „Haben Verse ein Geschlecht? Was ist das für eine Natur, von der die sogenannte Naturlyrik spricht? Kann sich Gewalt in Gedichten freisetzen? Schreibt Geschichte Gedichte oder machen Gedichte auch Geschichte? Was hat Lyrik mit Identität, was mit Chemie zu tun? Wie denkt man poetisch? Ist jemand da?“ Die Reihe will dann auch Begriffe, die den Diskurs bestimmen, für die Lyrik ausloten. Aus den einzelnen Essays soll im Laufe der Zeit eine Art Begriffskatalog entstehen. Das Heft von Bertram Reinecke ist v.a. all jenen zu empfehlen, die ein ausgeprägtes Interesse an der zur Zeit wieder einmal geführten Feuilletonschlacht um die angeblich so schwachbrüstige Gegenwartsliteratur aus Schreibschulen haben. Den ersten Teil von Reineckes sehr genau beobachtenden und analysierenden Essay lese ich noch auf der Heimfahrt von Plagwitz und verpasse dabei beinahe meine Haltestelle.
2. Donnerstag, 13.03.14: Messe, DLL
Mein Wecker klingelt 8.30 – Zeit für Frühstück bleibt keine. Die Tram ist voll, aber noch könnte man sich einmal im Kreis drehen. Nachmittags, als ich schon wieder zu Hause bin, werde ich lesen, dass die Ansagen der Haltestellen auf Schwitzerdütsch gewesen sind. Vielleicht haben sie die erst später eingeschaltet? Die Akkreditierung geht dann doch schneller als erwartet. Zumindest schnell genug, um noch vor den Manga-Kostümen Halle 1 passieren zu können. In Halle 5 angekommen, atme ich kurz durch.
EDIT Nr. 64 – Papier für neue Texte; Am Stand der Jungen Magazine bekomme ich die neue Ausgabe der EDIT in die Hand gedrückt. Jörn Dege, einer der beiden Herausgeber der Zeitschrift, sagt, man müsse unbedingt den Text von Heike Geßler lesen. „Saisonarbeit“ ist ein Essay mit Reportageelementen, der aber auch gut als Kurzprosa durchgehen würde und eigentlich als Radiostück geplant gewesen ist, erklärt er. Die Redaktion sei ganz und gar begeistert gewesen. Zwei Stunden später, ich sitze bereits wieder in der Tram Richtung Leipziger Innenstadt, beginne ich zu lesen: Heike Geßler erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich beim Versandhändler Amazon um einen Job bewirbt:, weil ihr eigentlicher Job, das Schreiben, nicht zum Leben reicht. Und so setzt der Text auch mit dem Antwortschreiben der Personalabteilung ein, unterschrieben mit „Ihre Personalabteilung“. Das Weihnachtsgeschäft steht vor der Tür und gleich eine Reihe Stellen sind zu besetzen. Was nun folgt, ist eine ehrliche und immer wieder auch recht bedrückende Beschreibung des Weges zum Job. „Ihr Vorstellungstermin heißt nicht Vorstellungsgespräch, weshalb Sie sich keine Worte zurechtlegen und auch nicht besonders gekleidet sind. Sie tragen Jeans und Pulli, es geht um keine Karriere.“ Beim Lesen wird schnell klar: das könnte ich sein, das könnte jeder sein – was nicht zuletzt an der direkten Anrede des Lesenden liegt und so simpel wie banal das vielleicht klingen mag. Ich stoppe hier, um nicht schon zu viel zu Verraten. Das Kaufen dieses Heftest lohnt sich jedenfalls!
Preis der Leipziger Buchmesse: Geht an Sasa Stanisic. Herzlichen Glückwunsch!
Diskussion im DLL: Nach einem nicht ganz so ereignisreichen Messetag, war ich am Abend im Literaturinstitut. Hier diskutierten u.a. Jörn Dege (EDIT), Nikola Richter (Dozentin im MA Angewandte Literturwissenschaft und Verlegerin des mikrotext Verlages), Elisabeth Ruge (ehem. Verlegerin von Hanser Berlin) und Guido Graf (Uni Hildesheim) mit Florian Kessler, dessen Artikel in der Zeit mit dem Titel „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn“ eine neuerliche Debatte über die Gegenwartsliteratur ausgelöst hatte. Gefragt hatte die Leipziger Literaturzeitschrift EDIT: „Ist die deutsche Gegenwartsliteratur zu brav?“ – Am Ende kam nicht viel Neues heraus, was nicht schon in verschiedenen Zeitungsartikeln zuvor beschrieben wurde. Dennoch, und v.a. für alle, die die Debatte nicht verfolgt haben, lohnt es sich, folgenden Mitschnitt anzuhören, den die Kollegen des Hildesheimer Litradios gemacht haben:
3. Samstag, 15.03.14: Hochschule für Grafik und Buchkunst
Samstag, so langsam setzt die Ermüdung ein, zu viele Menschen und zu zeitiges Aufstehen bei zu spätem Schlafengehen und zu viel Bier am Abend. Daher mache ich eine Pause, schlafe aus und gehe nicht zu Messe heute.
Stattdessen aber abends in die HGB zum Independent-Buchmarkt „It’s a book“. Vom Leipziger Verlag Spector Books initiiert, findet der diesjährige Markt unter der Regie von HGB-Studenten statt. Es lässt sich ehrlich kaum mehr sagen zu diesem Markt, als: es gibt sie noch, die schönen Bücher. Hier! Nach drei Tagen Messe ein wirklich schönes Erlebnis.
Im Anschluss präsentieren verschiedene Independent-Verlage ihre neuesten Bücher. „Teil der Bewegung“ findet bereits zum vierten Mal statt. Ein besonderes Highlight sind für mich die Lesungen Elke Erbs (roughbooks) und Charlotten Warsens (luxbooks); außerdem die wunderbare Musik von Spaceman Spiff:
Später gehen wir alle gemeinsam ins benachbarte DLL zur ebenfalls schon traditionellen Abschlussparty.
4. Sonntag, 16.03.14: Räuberunde / Messe
Der letzte Messetag. Zeit zum Tauschen und Räubern an den anderen Ständen. Meine diesjährige Ausbeute (Rezensionen folgen in den nächsten Wochen):
ca. 23.00, zurück in Berlin: SCHLAFEN, denn SCHLAFEN FETZT! :)
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Titelbild: (c) Jan Skudlarek, in: Skudlareks Leipzig, Lettrétagebuch
- FESTIVAL: 17. Literaturwoche Prenzlauer Berg, 18. – 28. Mai 14 - 14. Mai 2014
- AMAZON RISING: „Wählen Sie die Pest!“ - 24. März 2014
- KONFERENZ: Fiktion. Literatur digital am 21./22.03.14 - 19. März 2014