Streulicht

Jetzt ist sie zurück: Die Protagonistin in Deniz Ohdes Debüt Streulicht besucht ihren Vater in der Industriestadt, in der sie aufwuchs. Sie ist angereist, um die Hochzeit ihrer Sandkastenfreund*innen zu feiern: Sophia und Pikka. Sie selbst, die der Stadt den Rücken kehrte, blickt zurück und erzählt den Leser*innen von ihrer Kindheit zwischen Arbeiter*innenmilieu, Klassismus und Rassismus – auch wenn die Autorin diese Worte nicht explizit nennt. Ein ruhiges, lesenswertes und wahnsinnig eindringliches Debüt.

Deniz Ohdes Debüt Streulicht. Foto: Karolin Kolbe

Im Roman bleibt die Protagonistin namenlos. Ihr Name ist aber ein Thema: Sie hat zwei. Einen deutschen, der nach außen bekannt ist und mit dem sie in der Schule angesprochen wird und einen geheimen, türkischen, den nur Sophia kennt und den die Protagonistin nicht nach außen tragen will. Wissend, dass sie es mit diesem Namen schwerer haben wird. Außen, das ist die Schule, in der sie von vorneherein als „die Ausländerin“ unterschätzt wird und ihre Leistungen nicht anerkannt werden, in der sie schlechtere Noten bekommt, in der ihr das Gefühl vermittelt wird, niemals mithalten zu können. Außen ist, wo sie schüchtern und leise bleibt, um bloß nicht aufzufallen, bloß nicht in den Fokus der Leute zu geraten, die ihr schaden können: „Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.“ Außen ist aber auch das perfekte Zuhause ihrer Freundin Sophia: das ordentliche Haus, das Vollkornbrot auf dem Tisch, die Mutter, die in der Wohnung der Protagonistin bemüht höflich versucht, nichts zu berühren. Was Deniz Ohde zeigt, ist der Alltagsrassismus, den die Protagonistin erlebt, die vielen kleinen Momente, die eigentlich große sind. Manchmal sind es auch physische Gewalt und handfeste Beleidigungen, welche die Mutter der Ich-Erzählerin verständnislos zurücklassen:

Ich sagte meiner Mutter auf dem Heimweg, welches Wort ich gehört hatte, kurz vor dem Stoß. Ich fragte, was es bedeutete, und sie sagte, dass das nicht sein könne, dass unmöglich ich damit gemeint sein konnte. ,Es ist ein Schimpfwort‘, sagte sie. ,Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.‘

Und so beschließt die Erzählerin, sich ein dickes Fell wachsen zu lassen – auch wenn sie nicht weiß, wie das gehen soll. Stattdessen wird daraus aber eine aus Schutz entstandene Unsichtbarkeit. Die Autorin erlaubt hier einen möglichen Einblick in einen Alltag, den ich als weiße Leserin nie erlebt habe, obwohl er direkt neben mir stattfindet. Ein wichtiges Buch, nicht selten entsteht das Gefühl des Ertappt-Seins beim Lesen.

Gewalt und Unsichtbarkeit auch Innen

Im Gegensatz zum Außen gibt es für die Protagonistin das Innen, das Familienleben. Die unordentliche Wohnung, der Großvater im anderen Stockwerk, über Gefühle wird nicht gesprochen. Ihr Vater tauchte vierzig Jahre lang Aluminiumbleche in Lauge, der Industriepark ist der Motor der Gegend und prägt das Stadtbild und die Menschen:

Als Dunst entweichen die Nebenprodukte der Reaktionen den Schornsteinen, vom Mond mit silbernen Rändern versehen. Manchmal kristallisiert Salz aus der Chlorherstellung in der Luft und rieselt auf die Dächer; dann bekommen die Bewohner Gutscheine für die Autowäsche. Der Park bläst täglich große Mengen Wasserdampf in den Himmel, der als Industrieschnee wieder zu Boden fällt und den Ort im Winter oft als einzigen in der Region mit einer weißen Schicht überzieht. Wie mit dem Lineal gezogen, veläuft die Schneegrenze um ihn herum.

Viele arbeiten hier, wie der Vater, im Industriepark. Der Vater der Protagonistin kann an keinem Sonderangebot vorbeigehen, der Kram sammelt sich in der Wohnung an. Wenn er wütend ist, gilt es ihm aus dem Weg zu gehen, die Mutter hat über Jahre ein Verhalten entwickelt, um die häusliche Gewalt zu ertragen. Sie kam mit Aufbruchstimmung aus der Türkei und versuchte später ihren Mann erfolglos zu verlassen – ohne die Tochter. Sie stirbt. Zurück bleiben der Vater und die Protagonistin, die versuchen sich in ihrem gemeinsamen Leben einzurichten – und an der Kommunikation scheitern.

Die Freundschaft

Und dann gibt es da noch Sophia. Die Freundin, die schon immer zur Protagonistin hielt und sie doch, wie alle anderen, unterschätzte, klein hielt und mit ihren Kommentaren den gleichen Rassismus bediente, wie die anderen. An Sophia misst sich die Hauptfigur, an ihrer Art zu sprechen, an ihren Schulleistungen, ihren Haaren, den Hobbies und dem Familienleben, in das sie hineingeboren wurde. Trotz allem ist Sophia ihre wichtigste Beszugsperson. Deniz Ohde gelingt es, einen Roman zu schreiben mit einer zugänglichen, sensiblen Protagonistin. Was für die Erzählerin die Normalität ist, ist beim Lesen betrachtet eine ständige Vorsicht, ein ständiges unsichtbar bleiben, um nicht die Gewalt der Lehrenden, der Mitschüler*innen oder des Vaters zu erfahren, physisch, verbal und psychisch. Deniz Ohdes Beobachtungsgabe überträgt sich auf die Leser*innen und mehr als einmal wünscht man sich, dass die Eltern, die Lehrer*innen und auch die beste Freundin erkennen würden, wer die Protagonistin wirklich ist und womit sie zu kämpfen hat.

,Du tauchst immer so aus dem Nichts auf‘, hat Sophia oft zu mir gesagt und ich habe gelächelt, als wäre meine Lautlosigkeit eine charmante Eigenschaft und nicht Ausdruck einer erlernten Überlebensstrategie.

Ein großes Debüt, das nachdenklich macht und einen betroffen zurücklässt. Und doch, das ist der Hoffnungsschimmer, der bereits am Anfang des Romans entsteht – im Gegensatz zu Pikka und Sophia hat sie den Ort verlassen. Woanders versucht sie, neu anzufangen und kommt nur noch als Gast hierher zurück.

Deniz Ohde: Streulicht, Suhrkamp 2020.
Karolin Kolbe
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