Drei Mal im Jahr erscheint die Literaturzeitschrift Bella Triste. Zeitschrift für junge Literatur, deren Redaktion an der Uni Hildesheim zuhause ist. Lena hat für euch die Herbstausgabe durchstöbert und drei Texte ausgewählt, die sie besonders beeindruckt haben. Da sie einen kleinen Blick in die Redaktionsarbeit der Zeitschrift werfen wollten, hat sie interessiert, weshalb die jeweiligen Texte es in die Ausgabe geschafft haben. Also hat sie Luca aus der Bella Triste Redaktion gebeten, jeden der Texte zu kommentieren und zu erklären, was ihn besonders macht.
- Fiona Sironic: Das ist der Sommer, in dem das Haus einstürzt
Wenn ich die Trottel von oben husten höre und ich war in den Tagen davor nicht im Haus, dann kribbelt es immer ein bisschen, wie wenn man an Staubmilben denkt. Dann weiß ich, sie wird gleich die Stufen runterkommen, die mit jedem Schritt ein bisschen weiter einsinken und knarren. Und dann haben wir jedes Mal kurz vergessen, wie wir uns begrüßen müssen, und dann umarmen wir uns und währenddessen fällt es uns ein.
Fiona Sironic stiftet mit ihrem Text zunächst einmal Verwirrung. Die Figuren heißen “Die Trottel” und “Die Spinnerin” und dann ist da noch die Erzählerin, die möglicherweise die Tochter ersterer ist. Aufgebaut wie ein verwunschenes Rätsel, packt einen bald die Neugierde, was es mit all dem auf sich hat: dem alten Haus, das einzustürzen droht, der ständig müden und hustenden alten Frau, und der Erzählerin, die irgendwie verloren zu sein scheint. Das Tolle an dem Text ist, dass man ihn, auch ohne ihn zu verstehen, irgendwie trotzdem versteht. Auch ohne sein Rätsel vollständig gelöst zu haben, kann man sich seiner wilden Assoziationen und seiner poetischen Einsamkeit erfreuen.
BELLA Triste:
Fiona Sironic zeichnet in „das ist der Sommer in dem das Haus einstürzt“ ein lakonisches Bild einer Zeit zwischen Jugend und dem Erwachsen sein. Träge und zäh schleift die Sprache sich in Loops und Versatzstücken voran und ermöglicht uns so nur sehr vage Einblicke. Wir stellen uns die Frage, wem oder was man hier trauen kann. Von allem scheint eine Bedrohung, eine Angst auzugehen. „das ist der Sommer in dem das Haus einstürzt“ ist ein Text der von Desorientierung getrieben wird.
- Peter Neumann: Tief wurzeln in der Timeline die Bäume
du wartest auf den bruch, aber er kommt nicht
als hätten die bäume zu lange auf dem dachboden gestanden
die tagesform des internets, trockengefallen.
deiche, wehre, vermuschelte kanäle, ein echter
herrndorf-himmel ist das: eine baumreihe, die ihren schatten
bis zur unkenntlichkeit in die länge zieht. strohballen
liegen gekastet, halbe pausen, eine landschaft
die bloß modell steht, ohne menschen, berge, bonsai.
milane legen sich in die luft, wir gleiten vorüber
spülfelder, die uns beschützen vor den blicken
die es nicht gibt, und nur die regionalbahnen wissen
von den dörfern, den lichtern, dass es sie gibt.
Peter Neumann strickt in seinen Gedichten eine ungewöhnliche Verbindung zwischen Natur und moderner Technologie: Er vergleicht Bäume mit dem Internet oder eine Lichtung mit dem Flimmern einer Fehlermeldung und denkt über ein Tal, dass es wohl nur durch einen Programmierer entstanden sein kann. Liebevoll spricht er von der Schürzentasche seiner Großmutter als ihren intimsten Ort, kennt aber keine Gnade, wenn es um den Spatz geht, auf den er versehentlich getreten ist und der jetzt wohl im Müll landen wird. Mit sanften Worten versteht er es, Situationen sehr präzise darzustellen und die Menschen – und die Natur – in ihnen zum Leben zu erwecken.
BELLA Triste:
Peter Neumanns Gedichte „tief wurzeln in der timeline die bäume“ sind sprachlich sehr sauber gearbeitete Momente der Irritation. In die Natur schleicht sich technisches Vokabular ein, in die Idylle die unausweichliche Transformation. Starke und ehrliche Eindrücke vermitteln uns diese Gedichte.
- Marie Luise Lehner: Geschlechtergeschichte
Jemand greift mir auf die Brüste. Ich drehe mich um. Er hebt beschwichtigend die Hände.
Ich trage keine weiten Aussschnitte mehr. Ich fühle mich unwohl unter den Blicken, die meinen Körper und nicht mich betrachten.
Ich bin verliebt, als ich die erste Hand unter dem Rock habe. Wir sind an eine dunkle Ecke gedrückt. Ich bin sehr unsicher. Die Hand tastet an meinen Schamlippen entlang. Dann kommt eine Gruppe Menschen. Wir küssen uns. Eine Stimme fragt: Ist das ein Mann oder eine Frau?
Eine Freundin kommt nach Hause und erzählt, dass sie gerade mit einem Mann geschlafen hat, weil es einfacher war, als zu erklären, dass sie keine Lust mehr hatte.
Marie Luise Lehner erzählt, wie es ist, ein Mädchen zu sein. In kleinen Episoden zeichnet sie konturenstarke Bilder von Diskriminierung gegen Frauen und der Geschlechterunterschiede, die noch immer bestehen. Auf Reisen oder in der Schule, im Gespräch mit der Mutter oder mit sich selbst, erzählt sie von Selbstverteidigung, der ersten Menstruation, Männern, die ungefragt ihre Genitalien entblößen oder Getränken, die “Schenkelspreizer” heißen. Sie schreibt aus der Perspektive einer Teenagerin, was dem Text eine dramatische Unschuld verleiht. Obwohl ihren Worten eine untrügliche Naivität innewohnt, sind sie gleichzeitig auch erschreckend emotionslos und wirken fast abgebrüht – als würde es selbst dieses junge Mädchen nicht wundern, dass sich fremde Männer plötzlich ausziehen oder ihr in der U-Bahn heimlich an den Hintern fassen.
BELLA Triste:
Marie Luise Lehners „Geschlechtergeschichte“ erzählt in sehr klaren und eindrücklichen Episoden Ausschnitte einer weiblichen Erfahrung. Gerade im Kontext der vielen Debatten um Sexismus und um diskriminierende Strukturen an z.B. Universitäten und Hochschulen, braucht es solche Texte, glauben wir. Sie können uns Positionen und Sichtweisen auf persönliche Art vermitteln, ohne die geführten Diskurse zu subjektivieren.
BELLA triste 49. Zeitschrift für junge Literatur Herbst 2016 5,35€ – Diese Ausgabe ist derzeit leider vergriffen. –
- Die Geister-Universität - 23. Juni 2019
- Aus fehlender Hoffnung entsteht Wut: Mit der Faust in die Welt schlagen - 14. September 2018
- Ein Buch der Verwunschenheit: Lisa Kreißlers „Das vergessene Fest“ - 18. Juni 2018
In Peter Neumanns Texten spürt man die tiefe Verwurzelung in seiner mecklenburgischen Heimat. Sein Vokabular verweist darauf: “ strohballen“, “ regionalbahnen“, “ dörfern“, “ milane“, “ baumreihe „, “ deiche “ usw. Für mich schön, wie er die Spannung aufbaut zwischen der ( tradierten) Natur / Heimat und der modernen Welt / Technik.
Hallo E. Brasch! Interessant, darüber habe ich so noch nicht nachgedacht. Ich finde auch, dass er die beiden scheinbar so widersprüchlichen Bereiche sehr schön in Einklang miteinander bringt.