Sally Rooneys Bücher erfreuen sich bei Kritik und Publikum großer Beliebtheit. Nach der Lektüre der jüngsten Veröffentlichung aus dem Hause Rooney, Beautiful World, Where Are You?, bleiben Tom Luca Adams allerdings einige offene Fragen – und eine Sehnsucht nach mehr inhaltlicher Tiefe.
Rezension: Tom Luca Adams
© Tom Luca Adams
Eine Frau sitzt in einer Hotelbar und beobachtet die Tür. Sie sieht auf ihr Handy, wieder zur Tür. Ein Mann kommt herein, er blickt sich suchend um. Ob sie Alice sei, fragt er die Frau. Die erste Seite von Sally Rooneys neuestem Roman Beautiful World, Where Are You (dt.: Schöne Welt, wo bist du) leitet gekonnt ein in den Gegenwartscharakter dieser Autorin und ihres Schreibens: Es geht um die Überführung der digitalen Beziehungen in die Realwelt. Onlinedates, Mental Health, offene Beziehungen, soziale Medien, alles wird aufgegriffen und in den Text eingespeist. Literarisch verarbeitet, hätte eine Buchempfehlung es formuliert. Doch dieser Text kann keine Empfehlung sein, denn literarisch verarbeitet wird hier nichts, sondern Rohkost vorgesetzt.
Populärer Realismus
Das Storygerüst ist simpel: Die erfolgreiche Schriftstellerin Alice zieht in ein verlassenes Pfarrhaus an die irische Küste und verliebt sich in den Fabrikarbeiter Felix. In Dublin finden ihre beste Freundin Eileen, Redakteurin einer staatlich finanzierten Literaturzeitschrift, und deren seit Kindheitstagen einziger Freund Simon, christlich-liberaler Politikberater, nach Jahren wieder romantisch zusammen. Und man muss es so sagen: Auf dem Niveau dieser Figurenkonstellation befindet sich auch die literarische Qualität.
Nun ist das natürlich polemisch, denn eine komplexe Story macht noch kein gutes Buch, und es kann sogar gesagt werden, dass gerade in einer einfachen, zurückhaltenden Dramatisierung Raum für psychologische und ästhetische Tiefe entsteht. Es wird aber leider doch recht schnell deutlich, dass da wirklich nichts zu erwarten ist. Nach einem einleitenden Kapitel im neutral-beobachtenden Erzählstil folgt eine E-Mail aus der Perspektive Alices. Anschließend beobachten wir Eileen, sodann schreibt diese eine Mail an Alice, ebenso banal wie alles Vorherige. „I don’t need all these cheap clothes and imported foods and plastic containers, I don’t even think they improve my life.“ (S. 38) Viel mehr Erkenntnis folgt nicht. Felix‘ Figur, der working class man, erhält erst gar keine Perspektive, er wird als Werkzeug der Autorin genutzt, um zwischen den anderen drei höher Gebildeten zu moderieren. Die Figuren referieren Wikipedia-Artikel und Sally Rooneys feuilletonistische Sprache passt sich daran an: „And then the twentieth century shook the watch and made history happen again. But can’t we do that too, in another way?“ (S. 58)
Beautiful World, Where Are You ist ein gutes Beispiel der sogenannten Midcult-Literatur. Erzählt wird vermeintlich mehr als eine rein unterhaltende Geschichte für ein breites Publikum, jedoch ohne formal wie inhaltlich ambitionierte Auseinandersetzung mit dem menschlichen Dasein. Der Buchmarkt profitiert, weil sich die seichten Romane gut verkaufen lassen, und das Feuilleton kann über die darin angerissenen Themen referieren. Der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler beschrieb diesen populären Realismus erst letztes Jahr ausführlich, Sally Rooneys Schreiben entspricht exakt jenem International Style des gegenwärtigen Erzählens. Heraus kommen Dialoge von Figuren, die sich über Literatur unterhalten, aber selbst nicht literarisch ausgearbeitet sind. „I think I had an idea in my mind about beauty, or about the wedding, or about you and Simon and how you don’t remind me of myself, but I can’t remember what the idea was.“ (S. 247 f.) Irrelevante Sätze wie dieser, formal wie inhaltlich eine Selbstaufgabe, reihen sich aneinander. Nun ist sich Sally Rooney dessen sicherlich bewusst, es steckt also eine ästhetisch bewusste Entscheidung dahinter, die Figuren unnahbar zu belassen. Sie bleiben Fremde, so wie es in der Gegenwartsliteratur keine Seltenheit ist.
Ein Roman voller old sincerity
Es gibt dieses Phänomen auch im deutschsprachigen Bereich, bei Leif Randt zum Beispiel, dessen Allegro Pastell überhaupt einige Ähnlichkeiten vorweist (übrigens enden beide Romane auch mit einer Schwangerschaft), wenngleich die Oberflächlichkeit dort reflektiert wird. Ihre, das heißt unsere Epoche ist jene nach der Postmoderne, in welcher es noch als Problem galt, sich verletzlich und angreifbar zu zeigen. Beautiful World, Where Are You ist Teil der New Sincerity, doch man kann sich das new sparen, es ist eine erschreckend konservative beautiful Welt, von der hier geträumt wird.
In der Sincerity liegt ein weiteres Problem, der Mangel an Humor und Leichtigkeit. Es gibt keine Selbstironie in diesem Buch, es scheint tatsächlich ernst gemeint zu sein. Als die zwei Freundinnen sich nach langer Zeit dann an einem Bahnsteig wiedersehen gerät diese Ernsthaftigkeit zu reinem Kitsch: „Were they in this moment unaware […], untouched by vulgarity and ugliness, glancing for a moment into something deeper, something concealed beneath the surface of life, not unreality but a hidden reality: the presence at all times, in all places, of a beautiful world?“ (S. 250) Ja, man würde auch gerne mal in etwas Deeperes glancen in diesem Buch, aber tatsächlich bleibt alles Oberfläche, kein Gedanke eines Satzes wird über diesen hinaus weiterverfolgt. Zugleich wird diese Oberfläche auch nicht radikal als solche stilisiert, Rooney strebt tatsächlich nach Bedeutung.
„I do need you more, a lot more, than you need me. He let out a breath. She was watching him in silence. He went on distractedly, almost as if talking to himself: But maybe I’m saying all the wrong things. I find it very hard to talk like this.“ (S. 322) Solche Sätze werden ernsthaft geschrieben, vom Lektorat abgenickt und dann von Feuilletonisten gelobt und mit Preisen ausgezeichnet. Der New York Times ist dieses Niveau zwei große Kritiken wert, sie macht es zusammen mit all den anderen Medienhäusern zum Bestseller. Doch nicht nur ästhetisch ist der Roman eine Enttäuschung, inhaltlich bezeugt er die Rettung des Bürgerlichen ins Konservative, da ihnen die Welt zu krisenhaft und komplex erscheint (wie täglich von bürgerlichen Medien erzählt, bis letztlich jeder diese Meinung übernimmt). An Gott glauben, Kinder zeugen, das ist es, was zählt: „To live with someone I really love and respect, who really loves and respects me – what a difference it has made to my life.“ (S. 336) Beautiful World, Where Are You ist in seiner Moral letztlich ein Anti-Emanzipationsbuch.
Digitale Stille
Natürlich hat dieses Buch auch seine Qualitäten. In einer Szene liegen Alice und Felix im Bett, sie sucht nach einem Film auf Netflix, doch nach zahllosen Trailern ist man zu müde und geht lieber schlafen. Rooney schafft es in prägnanten Sätzen die Welt, so wie sie ist, noch einmal zu präsentieren. Die häufigen Szenenwechsel und die erotische Spannung motivieren zum Weiterlesen. Doch in der Netflixszene offenbaren sich auch alle Problematiken: Es findet keine zweite, künstlerische Entfremdung statt, wir bleiben gefangen in der ersten, von der Gesellschaft vorgegebenen. Die Arbeiterklasse guckt ebenso wenig Netflix wie die Oberschicht. Es ist die Mittelschicht, die sich hier widergespiegelt findet. Sie geht in die Buchhandlung und liest und sagt: Guck mal, das ist genau wie bei uns. Zusätzlich sind die Figuren aber allesamt ein bisschen reicher und schöner als die Rezipient:innen. Durch diese Überhöhung soll möglicherweise eine parodistische Note der Erzählung erreicht werden, stattdessen erlaubt sie aber ein Moment des Eskapismus.
Denn die Mittelschicht sagt dann: Die Figuren sind Teile der problematischen Gesellschaft, nicht ich, der ich äußerliche Makel habe und zudem keine Million auf dem Konto, wie es Alice einmal erwähnt. Ja, auch wir laufen mit Coffee-to-go zur Arbeit, doch diese Ähnlichkeiten sind cute, nicht Symbol für das Wegsehen im Angesicht des Schreckens der Umweltzerstörung. In der digitalen Glätte von Rooneys Erzählwelt findet sich kein emanzipatorisches Subjekt, sie wird zu einer digitalen Stille. Denn wo kein analoges Maschinenwerk arbeitet, da hört man auch die Arbeit und damit das Proletariat nicht mehr. Es ist eine elitäre Literatur, die wir hier vorfinden. Auch dies kann eine bewusste Entscheidung Rooneys sein, die sich selbst als Marxistin bezeichnet. Sie sagt: “I’m very sceptical of the way in which books are marketed as commodities, like accessories that people can fill their homes with, like beautiful items you can fill your shelves with and therefore become a sort of book person.” (Louisiana Channel: Sally Rooney on Writing with Marxism) Und schreibt dann Bücher, wie perfekt auf eine Fortführung dieser Tendenzen angepasst.
Autofiktionale Repetition
Die Frage ist nicht, ob es keinen guten Roman geben kann, in dem eine Figur Netflix schaut, doch es darf die Frage gestellt werden, ob die nötige Radikalität im Schreiben erreicht werden kann von Personen, die in der Netflix-Konsum-Welt leben, ohne dagegen aufzubegehren. Vielleicht darf man von diesen Personen wirklich keine anderen Sätze erwarten als jene, die die Situation, in der sie sich befinden (und in der wir gerade leben), wiederholen, und ihr damit eine Rechtfertigung zuschreiben. Vielleicht ist es schlicht der Stil, der fehlt. Vielleicht können die Gegenwartsautor:innen es auch wirklich nicht besser. Jedenfalls spiegelt die Unterkomplexität der Sprache die Unterkomplexität der Gedanken. Die Menschen sind so zerstört von ihrem Konsumleben, dass die Wiederholung desselben den einzig möglichen Ausweg aus der Misere darstellt. So lange wiederholen sie die Qual, bis irgendwann die Erlösung kommt.
Das kennt man auch von Michel Houellebecq, einem ebenso überschätzten männlichen Gegenpart Rooneys, der genau wie sie das Innenleben seiner Figuren mit gesellschaftspolitischen Fragen verknüpft und ebenso wie sie ohne die ganzen Sexszenen wohl viele Leser verlöre. Die Überschätzung liegt bei beiden darin, dass sie für Stimmen für ihre Generation oder, noch präziser, ihr Milieu gehalten werden, und doch beide nicht in der Lage sind, ihr Milieu angemessen zu reflektieren, sie sind zu tief darin gefangen. Die Erlösung wird durch all diese autofiktionale Repetition nicht kommen, sie läge in der literarischen Stilisierung, die durch ihre Verhüllung des Wirklichen erst Wahrheit ermöglicht.
Der Titel des Buches bleibt als einzige Hoffnung bestehen – solange die Gesellschaft noch nach einer schöneren Welt sucht, ist sie möglich. Die großen Medien haben alle Hoffnung fahren lassen, die New York Times findet ausgerechnet den Titel „terrible“ und meint lediglich, er verweise auf ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert. Dass es von Friedrich Schiller stammt, der darin die Entfremdung des Christentums kritisiert, verschweigt sie. Stil und Gesellschaftskritik gehören zusammen, wo das eine fehlt, ist das andere Lüge.
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