Das enfant terrible der französischen Literaturszene, der Baudelaire der Supermärkte, hat einen neues Buch geschrieben. Platz eins auf den französischen Bestseller-Listen, Gewinn des wichtigsten französischen Literaturpreises, große Begeisterung bei Freunden wie Feinden – was ist dran am neuen Roman von Michel Houellebecq?
Jed Martin ist Künstler. Er lebt allein in seiner unaufgeräumten Pariser Wohnung, lauscht dort dem rhythmischen Glucksen seines alten Warmwasserboilers und holt wie jedes Jahr zu Weihnachten seinen Vater für ein paar Stunden zum Essen aus dem Altersheim. In der Kunst hingegen will Jed sich nicht wiederholen. Er fotografiert und bearbeitet Straßenkarten der französischen Firma Michelin, malt eine Reihe von Gemälden, die Menschen wie Steve Jobs oder das Escort-Girl Aimée bei ihrer Arbeit zeigen und dokumentiert am Ende seines Lebens den Zerfall aller Dinge mittels collagenartiger Videogramme. Jed macht sich einen Namen in der internationalen Kunstszene und sein Galerist beschließt, sich für die Katalogtexte prominente literarische Unterstützung ins Boot zu holen: den weltberühmten Schriftsteller Michel Houellebecq.
Klassisch ist die Struktur des neuen Romans von Michel Houellebecq auf den ersten Blick: Epilog, erster Teil, zweiter Teil, dritter Teil, Prolog. Jeder Abschnitt steht für eine neue künstlerische Schaffensphase im Leben des Protagonisten Jed. Überraschend ist nur die Wendung im dritten Abschnitt: Houellebecq spielt mit den Genres, der Roman wird plötzlich zum absurden Krimi und versucht, ein Verbrechen im Namen der Kunst aufzuklären. Verwirrt wird der Leser aber schon an früherer Stelle. Houellebecq erschafft sich selbst als Figur. Diese Figur ist Schriftsteller, im Roman mit Vorliebe bezeichnet als „der Autor von Die Möglichkeit einer Insel“ oder „Der Autor von Elementarteilchen“, hat wie der echte Houellebecq einen Hund, ein Haus in Irland und einen Hang zur Misanthropie. Er inszeniert und zerstört sich selbst. Von Autofiktion kann dennoch keine Rede sein, denn letztendlich steckt genauso viel (oder womöglich kein Stück) echter Houellebecq in der gleichnamigen Figur, dem Künstler Jed sowie in dessen Vater. Das alte Problem, nur verschwimmt die Grenze zwischen wahr und unwahr in diesem Werk mehr denn je. Wer im neuen Roman von Michel Houellebecq nun tatsächlich existiert und wer nicht, ist für die Mehrheit der deutschen Leser angesichts der vielen französischen Namen aus der Kunst- und Medienszene Frankreichs vermutlich sowieso schwer zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist allerdings auch gar nicht notwendig, denn am Ende bleibt ja doch alles Fiktion.
Dass die Kunst über die Wirklichkeit triumphiert, scheint das stille Credo des Buchs zu sein. Jed Martin eröffnet seine Ausstellung mit Bildern der Michelin-Straßenkarten mit folgendem Satz: „La carte est plus intéressante que le territoire.“ Die Karte sei interessanter als das eigentliche Gebiet, die Repräsentation spannender als ihr reales Vorbild. Eine wahre Ode an die Kunst, könnte man meinen. Gleichzeitig aber hält Houellebecq (der Echte), wo es nur geht, Abstand zu den Praktiken dieser Kunstszene. Ihre Akteure sprechen von win-win-Situationen oder ihrem eigenen Marktwert, urteilen oft ohne zu verstehen. Gern setzt er sprachliche Klischees kursiv, distanziert sich von allem, „was man eben so sagt“ – auch wenn der Leser diese Ironie bisweilen auch ohne den grafischen Hinweis verstehen könnte.
Das Spiel mit der Kunst offenbart sich im Fall von Karte und Gebiet auch in einer anderen Debatte. An mehreren Stellen des Romans übernahm Houellebecq angeblich wortwörtlich Passagen aus französischen Wikipedia-Artikeln (u.a. über die Stubenfliege oder die Stadt Beauvais) ohne Angabe der Quelle. Dies veranlasste den Juristen und Blogger Florent Gallaire dazu, den gesamten Text unter creative-commens-Lizenz online zum Download anzubieten. Auf wenig Begeisterung stieß dieses Vorgehen natürlich bei den französischen Verlegern von Flammarion in Paris; ein Verfahren wurde eingeleitet und die Verbreitung im Netz im Dezember 2010 daraufhin eingestellt. Wenn auch nur der Verdacht geistigen Diebstahls aufkommt, scheint der Literaturbetrieb in Frankreich ähnlich sensibel wie der deutsche. Die Aufregung war groß, alle schrien „Plagiat“, Houellebecq selbst wies die Vorwürfe als „lächerlich“ zurück. Fraglich bleibt, ob man bei kurzen, in den Text integrierten Zitaten, die zudem keinerlei literarischen Anspruch erheben und als Gemeinschaftswerk im Internet erschaffen wurden, überhaupt von Plagiaten sprechen kann.
Die Diskussion hat dem Werk jedoch keinen Abbruch getan. Michel Houellebecq gewann (endlich, tönte es aus vielen Ecken) den Prix Goncourt und beeindruckte nicht nur diejenigen, in deren Gunst er ohnehin schon stand. Karte und Gebiet ist nicht weniger zynisch als seine bisherigen Romane, aber ruhiger, an einigen Stellen sogar überraschend melancholisch. Dass die große Provokation diesmal ausfällt, ist vielleicht auch der Darstellungsform der Kunstszene, ihrer Akteure und des Tourisenparadieses Frankreich geschuldet. Der Protagonist Jed fasst zusammen: „Le monde est médiocre“. Die Mittelmässigkeit der Welt ist zumindest in Karte und Gebiet unglaublich spannend.
Dieser Text bezieht sich auf die französische Ausgabe: Michel Houellebecq, La carte et le territoire, Flammarion 2010.
Karte und Gebiet erscheint heute, am 16.03.2011, in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann bei DuMont.
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