Rachel Cusk lädt ein – zum Nichtstun, zur aktiven Passivität. Welche Stimmen werden laut, wenn man die eigene zurückhält? Wer traut sich nah heran, wenn jede Deckung sinkt? Die Kunst des Innenhaltens setzt hier alles in Bewegung im literarischen Rhythmus zwischen dem Innen und Außen, zwischen Nähe und Distanz.
Eine Rezension von Louisa Zennia
Die Protagonistin, wir wissen außer einer kurz geschilderten Vorabendszene nichts über sie, befindet sich im Flugzeug und wird von ihrem Sitznachbarn ins Gespräch verwickelt. Wobei die Bezeichnung „Gespräch“ der Einseitigkeit der Unterhaltung nicht gerecht wird; er erzählt, sie hört zu. Ihre Rolle bleibt eine umkreisende, kritisch fragende, gekonnt reflektierende. Jene Situation bildet den Auftakt zu einer Reihe ebensolcher Begegnungen, einige scheinen altbekannt, andere von neuer Gestalt.
Eine Erzählung, die unmittelbar ins Geschehen einsteigt – bereits jene erste Begegnung aus dem Flugzeug erzeugt in rasantem Tempo innige Tiefe, ein Strom der einem Füße wegreißt. Schnell wird klar, im Zentrum steht hier die Leseerfahrung, lies und lass dich tragen, denn welche Richtung die Geschichte auf den kommenden Seiten einschlagen wird, bleibt vorerst unberechenbar.
„Die Autorin versteckt sich im Bürgertum wie die Zecke im Pelz eines Tieres; je tiefer sie sich eingräbt, desto besser.“
Das Ziel ihrer Flugreise ist Athen, wo die Protagonistin, erzählend aus der Ich-Perspektive, den Sommer als Leiterin eines Schreibkurses verbringt. Bei dessen Teilnehmer:innen handelt es sich um eine wilde Mischung exzentrischer Charaktere, die sich ihr über ihre Schreibübungen zu offenbaren scheinen. Generell erhält man einen detaillierten Einblick in die Umwelt der Erzählerin; die fremde Wohnung, welche sie den Sommer über bewohnen wird, aus der sich ein grober Umriss ihrer eigentlichen Besitzerin zeichnen lässt oder die Lokalitäten, in denen ihre Begegnungen stattfinden, die sie wehrlos in ihre Monologe aufsaugen. Unter ihnen befinden sich beinahe ausschließlich Schriftsteller:innen verschiedenen Typus, deren liebstes Thema – ganz in der Manier des egozentrischen Künstlers – die eigene Arbeit und Person zu sein scheint. Ließen sich aus dem Buch vielleicht verschiedene Kernthemen herauskristallisieren, wird sie für mich zu einer Erzählung über das Erzählen, ein Porträt des modernen Schriftstellertums. Gekonnt werden Begriffe über die Seiten gestreut, die ihre eigenen Methoden illustrieren; das Brechen einer literarischen Oberflächenspannung oder der Blick durch die Linse der Erwartungen.
„Man könnte sein ganzes Leben damit verbringen“, sagte sie, „alle möglichen Ereignisse auf eigne Fehler zurückzuführen.“
Durch die Flucht in die Geschichten und Lebensräume anderer, bleibt die Protagonistin weitestgehend im Verborgenen. Jedoch blitzen hier und da Erinnerungsstücke ihrer eigenen Geschichte auf. Teilweise werden diese von außen an sie herangetragen, zu anderen gelangt sie durch das Netz der eigenen Gedanken und Vorstellungen, in denen sie sich häufig zu verlieren vermag. So gab es wohl eine schmerzhafte Scheidung, die nicht allzu lange her ist und ihr Name, Faye, den man nur ganz nebenbei erfährt. Und doch, thematisch an den Figuren haftend, erschließt sich ihre Person den Lesenden über Reaktionen und kommentierende Gedanken, ohne dabei viel von sich Preis zugeben. Scheint es zu Beginn etwas unverständlich mit welcher beinahe anmaßenden Intensität Faye in den biografischen Schubladen anderer wühlt, muss man sich bald eingestehen, dass einem die verlockende Einfachheit sich auf die fraglichen Lebensentwürfe und Fehltritte des Umfelds zu konzentrieren sehr bekannt vorkommt, wenn die eigene Realität zu viele Fragen aufwirft. So bildet sie das Zentrum scheinbar loser Fäden, die sie wie ein Netz aus Erzählsträngen rhizomatisch umweben und deren Verbindung untereinander allein sie selbst zu bilden scheint. Eine finale Zusammenführung dieser bleibt jedoch aus, behutsam tritt sie gegen Ende aus der Rolle der Erzählerin und gibt diese weiter, als hätte man auch nur annähernd genug über sie erfahren.
Diese Erzählung lebt von ihrer Mitte, ein geschmeidiger Fluss ohne harte Brüche, atmosphärisch umhüllt von Sommersonne und Straßenverkehr einer mediterranen Großstadt. Gewitzte Beobachtungen, außerordentliche Detailschärfe und kluge Kommentare, die sich keiner hochgestochenen Sprache bedienen müssen. Klarheit trotz Verflechtungen, Erkenntnisse mit Zitierpotential. Cusk drückt dem:der Leser:in kein Ende auf, keine Moral, sie bleibt sprachlich weitestgehend wertfrei und doch schafft sie klare Verhältnisse zwischen der Hauptfigur und ihren Bekanntschaften. Das Ende franst etwas aus, was hier einem schlüssigen Finale aber definitiv vorzuziehen ist. So abrupt man in die Erzählung eintaucht, wird man aus ihr wieder entlassen.
„Ich sagte, ich würde ganz im Gegenteil immer stärker an die Vorzüge der Passivität glauben und an ein vom Eigensinn möglichst unberührtes Leben. Wenn man sich nur genug anstrengte, könnte man fast alles erreichen, aber die Anstrengung war – in meinen Augen – fast immer ein Zeichen dafür, dass man gegen den Strom schwamm und die Dinge in eine unnatürliche Richtung lenken wollte.“
Sehr modern und trotzdem zeitlos – obwohl es sich um eine fiktive als novel betitelte Geschichte handelt, mutet die Form eher offen an und ließe sich wohl am ehesten als eine Erzählung mit Elementen der modernen essayistischen Schreibweise beschreiben. Dominiert durch die Dynamik des standpunkthaften Ausstrahlens in umliegende Sphären, um doch stets zum eigenen Ausgangspunkt zurückzukehren und das Erlebte zu verhandeln, einzuordnen, behalten oder loszulassen. Der Titel des Buches wird dabei Programm; pointierte Informationen zu den Figuren bilden deren Umrisse, schaffen Linien, die sie nicht zuletzt klar voneinander abzugrenzen. Zwar bleiben es keine oberflächlichen Einblicke, doch in seiner Gänze greifbar wird keine:r von ihnen.
Konzepte des Nichtstuns erfreuen sich heutzutage großer Beliebtheit, als Gegenentwurf zum permanenten Leistungsdruck. Was im ersten Moment nach Selbstoptimierung und positiver Affirmation klingt, wird bei Cusk zur gekonnten Denk- und Erzählmethode, die einen schleichend vereinnahmt. Sie regt an sich entspannt zu öffnen, wobei ihre eindringliche Stimme unter die Haut geht und sich dort auch über die Erzählung hinaus manifestiert.
Rachel Cusk gelingt mit Outline das, woran viele der modernen Essayist:innen scheitern; trotz ihrer umkreisenden Tendenz scheut sie nicht die Berührung des Objekts. Sie hält sich weitestgehend zurück und könnte nicht präsenter sein, sie bleibt wertfrei in ihren Aussagen und könnte keine schärfere Kritikerin sein.
„Daran jedoch, daß der schlechte Essay von Personen erzählt, anstatt die Sache aufzuschließen, ist die Form nicht unschuldig“ – T.W. Adorno
Outline ist das erste der nach der Hauptfigur benannten Faye-Trilogie und erschien erstmalig 2014 bei faber & faber in Großbritannien sowie 2015 in den USA bei Farrar, Straus und Giroux. Die weiteren Bände tragen die Titel Transit und Kudos. 2014 platziert auf der Shortlist des Goldsmiths Prize sowie 2015 auf der Shortlist des Folio Prize und des Baileys Women’s Prize for Fiction, wurde das Buch im selben Jahr von der New York Times zu einem der Top Ten Books of 2015 ernannt. Der Umfang umfasst 258 Seiten.
Ein besonderes Augenmerk gilt der Covergestaltung der britischen Ausgabe von faber & faber aus dem Jahr 2018. Bauhaus meets Mittelmeer: In serifenlosen Versalien werden Titel am oberen und Autorin am unteren Rand genannt. Mittig zentriert auf zart beigem Hintergrund ist die Fotografie einer vertikal in den Sand gesteckten Muschel platziert. Wie ein offenes Ohr neigt sie ihre Öffnung dem Betrachter entgegen und lädt ein, der berauschenden Erzählung zu lauschen.
Rachel Cusk, geboren 1967 in Kanada, ist eine britische Schriftstellerin. Ihr Studium schloss sie in Oxford ab und arbeitete anschließend in Literaturagenturen. Im Jahr 1993 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Saving Agnes. Seither arbeitet sie als vielfach ausgezeichnete Autorin und zählt zu den Granta Best of Young British Novelists.
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