„Flüchtlinge“ … sind derzeit das Thema Nummer 1 in der Politik, in den Medien, in Kulturproduktionen. Von Jelineks Die Schutzbefohlenen bis Ronens The Situation – es gibt zahlreiche Theaterstücke, Texte, Aktionen, die sich um das Thema drehen. Oft werden dabei auch geflüchtete Menschen selbst mit einbezogen – entwickelt werden diese Werke im Grunde aber doch von (uns) weißen Westlichen für (uns) weiße Westliche. Dem möchte ich auch gar nichts kritisch entgegnen! Solche Produktionen informieren, erregen Aufmerksamkeit, sind wichtig. Doch frage ich mich: Was interessiert unsere neuen Mitbürger eigentlich selbst? Mehr als 800.000 Geflüchtete leben nach Recherchen der FAZ in Deutschland – 800.000 Kulturrezipienten?
Wer hungert, braucht erst einmal essen. Wer wochenlang mit wenig Gepäck von Land zu Land gereist ist, braucht Kleidung. Aber was kommt dann? In Deutschlands Versorgungsunterkünften leben manche Geflüchtete seit Monaten, andere seit Jahren. Sie haben Essen, sie haben Kleidung – und sie haben viel Freizeit. Wer keinen Pass hat, darf auch nicht arbeiten. Sogar der staatlich finanzierte Deutschkurs ist oft ein bürokratisches Problem. So kommt es also, dass Leute so schlau wie du und ich, so alt wie du und ich, so gebildet wie du und ich, Leute, die es irgendwie hingekriegt haben, eine Flucht nacht Europa zu organisieren über all die Hürden, Mauern und Zäune hinweg, die zwischen uns und den „nicht sicheren Herkunftsländern“ stehen – dass diese Leute sich langweilen.
Ihre Stimme ist unerhört. Unerhört, weil sie keinen kennen, an den sie adressieren können, was sie interessiert. Unerhört, weil sie die Sprache der Leute hier nicht sprechen. Unerhört aber auch, weil der Deutsche sie nicht hören will. Der Flüchtling soll glücklich sein. Er kriegt Essen und getragene Schuhe. Unerhört, wenn der noch was will! – So die Meinung des Deutschen.
Glücklich sein?
Glücklich ist man so nicht. Auch nicht du, auch nicht ich.
Glücklichsein ist mehr als nur Essen und Bett. Bildung, Zerstreuung, Genuss, Beschäftigung sind essenziell.
Ihre Stimme ist also unerhört, aber ihre Stimme gibt es. Hadi ist 30 und Syrer. Gelebt hat er aber auch schon im Libanon, in Ägypten, in Griechenland und jetzt in Köln. Würde er ein Buch schreiben, wäre es über Syrien, den Krieg, die Morde, Politik und das syrische Volk, sagt er. Lesen würde er gerade aber am liebsten ein Buch über die deutsche Geschichte – auf arabisch. Bisher hat er in Köln aber keine Buchhandlung gefunden, die auch arabische Bücher verkauft.
Ammar ist 25, ebenfalls Syrer und lebt in Berlin. Er interessiert sich für Philosophie. Am liebsten würde er Bücher von Khalil Gibran lesen, einem libanesisch-amerikanischen Philosophen. Gibran stellt in seinen Werken heraus, dass gerade Liebe das ist, worauf es im Leben ankommt. Seine Philosophie wird als Bindeglied zwischen arabischen Anschauungen und der christlich-westlichen Kultur gesehen.
Ammar wohnt im ehemaligen Flughafen Tempelhof, der heute Deutschlands größte Geflüchtetenunterkunft ist. Dort hat der Verein THFwelcome! mittlerweile ein Café eingerichtet, das als Begegnungsstätte und wohnlicher Aufenthaltsraum dient. „So. Geschafft.“ Sascha von THFwelcome! hat es hingekriegt, in seiner Freizeit Helfer zu organisieren, die ein Regal für das Café gebaut haben. Und was jetzt? – Irgendwoher irgendwelche Bücher besorgen! Es werden sich schon ein paar Spender finden. – Dass sich ein paar Buchspenden finden lassen, ist ohne Zweifel. Dass aber ausgerechnet diese Bücher Hadi oder Ammar interessieren, müsste schon ein Glückstreffer sein. In der Geflüchtetenhilfe, die gerade im Kulturbereich oft ausschließlich ehrenamtlich organisiert ist, fehlt es meist an Zeit und Geld, gezielte Angebote zu schaffen. Die ehrenamtlich Engagierten liefern das Nötigste – und das bemerkenswert schnell. Würden sie erst ausführlich Interessen abfragen und dann Gelder akquirieren, um gezielt Besorgungen zu machen, wäre Saschas Regal noch lange leer.
Direkt neben dem THF Café ist die Asylothek, eine Bibliothek für die Bewohner der Unterkunft, über die Friederike bereits auf Litaffin berichtet hat. Anders als in Saschas Regal findet man hier schon eine große Auswahl an Büchern. Auch zwei Bücher über Khalil Gibran gibt es. Aufgeteilt sind sie in Kategorien, beschriftet in Deutsch, Farsi, Arabisch, Russisch, Serbisch. Welche Bücher stehen hier?, frage ich mich. Woher kommen sie? Wer wählt sie aus? „Erst mal haben wir alles genommen, was wir kriegen konnten“, antwortet mir Suzanne Visentini, die seit Februar mithilft, das Projekt zu koordinieren. „Wie auch anders?“, fügt sie hinzu. Man ist ja auf die Spenden angewiesen. „Wir versuchen aber mit den Bewohnern, die zu uns hinkommen, ins Gespräch zu kommen.“ Auch bei der Initiative GermanNow!, die in der Unterkunft Deutschkurse gibt, hätten sie schon nachgefragt. Von Frauen würden oft Liebesromane genannt, von Männern eher Comics. Am meisten sind aber Bücher zum Deutschlernen gefragt. Auch Hadi und Ammar haben mir Deutschlehrbücher als aller erstes genannt.
Der größte Spender oder besser gesagt Spendenkoordinator der Asylothek ist der Berliner Büchertisch. Auch hier lautet die Devise: „Learning by doing.“ Wie auch anders? „Ganz am Anfang haben wir erst mal ganz viele englische Bücher in die Kisten für Flüchtlingsunterkünfte gepackt, bis dann mal das Feedback kam, dass gar nicht so viele Flüchtlinge Englisch können“, erzählt mir Kerstin Grundhöffer im Kreuzberger Hinterhof des Büchertischs. Feedback von den Unterkünften kommt aber nur selten. „Dort hat keiner Zeit für Evaluation“ – und wenn, dann ist das auch meist, „was die Institution denkt“, so Kerstin. Dass viele konkret nach Wünschen von Bewohnern fragen, glaubt sie nicht. Meistens laute die Anfrage „einfach irgendwas“. Die Auswahl beim Büchertisch geschieht dann nach Gutdünken: „Die Leute haben eine ziemlich schlimme Zeit hinter sich.“ An Geflüchtetenunterkünfte schickten sie daher hauptsächlich Bücher mit „schönen Themen“, „nicht so schwere Sachen, keine krassen Krimis“.
Geflüchtete Menschen werden also durchaus als Kulturrezipienten wahrgenommen, es fehlt aber an Kommunikation, an Brücken zwischen Angebot und Nachfrage. Das kann man keinem zum Vorwurf machen. THFwelcome! ist ein ganz junger gemeinnütziger Verein, die Asylothek ein rein ehrenamtliches Projekt, der Büchertisch eine Genossenschaft mit nicht allzu großen finanziellen Mitteln. Großes bewirken müsste die Politik. Innerhalb Europas hat Deutschland eine beispielhafte Rolle eingenommen, als es darum ging, Menschen aufzunehmen. Jetzt geht es darum zu verstehen, das die Arbeit damit erst begonnen hat. Bei einem Blick auf die Asylothek und den Büchertisch kommt aber Hoffnung auf: Ein paar Bücher von Gibran sollen für Ammar besorgt werden; eine Asylothek in Köln, in der Hadi arabische Bücher finden kann, ist in Planung. „Und wenn schon nur die Hälfte oder ein Drittel der Bücher genutzt werden“, die bisher noch etwas ungerichtet in die Regale der Geflüchtetenunterkünfte eingeräumt werden, „dann ist das toll“, kommentiert Kerstin Grundhöffer abrundend.
Hier könnt ihr sehen, wo es in Deutschland schon Asylotheken gibt und mehr über die Projekte des Büchertischs erfahren.
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