Die Regale reichen vom Boden bis zur Decke – idealer Stauraum für eine Unmenge an Büchern – doch sie sind leer. Eine Vorahnung? Eine Metapher für die nahende Zukunft ohne physische Bücher? Im Hauptquartier von Readmill scheint dies längst Realität geworden zu sein. Mit Blick auf die Spree hat sich das junge Start-up-Unternehmen ein Büro ganz im Stil seiner Vision eingerichtet. Modern, Digital, Vernetzt, ganz so wie sich Henrik Berggren und David Kjelkerud ihr Projekt vorstellen.
Von Caroline Merz und Theresa Kellner.
Vor drei Monaten sind die beiden Schweden nach Berlin gezogen, um hier, in der „most energizing city“, Readmill umzusetzen. Im Augenblick befindet sich das Projekt noch in der Betaphase. Am 6. Dezember gegen Abend (also heute!) soll Readmill dann aber der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Doch was heißt denn eigentlich Readmill? Der Name – wörtlich übersetzt Lesemühle – soll suggerieren, dass das Lesen durch das Netzwerk immer wieder neu generiert wird, so Henrik Berggren. Der Austausch zwischen den Lesern führe zu neuem Lesen und weiterem Austausch. „By tracking what you are reading and what your friends are reading, you can give great recommendations; this […] mill is the factory that we are building.” Readmill ist also in erster Linie ein sich ständig neu generierender Apparat an Empfehlungen, Kurzrezensionen und Kommentaren, der unter anderem die Funktion hat, User zum Lesen, Weiterlesen und anders Lesen anzuregen.
Die Idee zu einer solchen Plattform für eBook-Leser entstand bei einem Besuch der Flickr-Mitgründerin Caterina Fake in San Francisco. Sie zeigte Berggren ihr Exemplar von James Joyce Ulysses‚ und er war beeindruckt. Beim Anblick dieses mit unglaublich vielen, aber leider unteilbaren Marginalien ausgestatteten Buches kam Berggren und seinem Team die zündende Idee: einen Weg zu finden, um diese „unshareable marginalia“ mitteilbar, also shareable, zu machen. Diese Idee wurde zum Ausgangspunkt der Entstehungsgeschichte von Readmill. Für Berggren steht deshalb die Vernetzung der Leser und das Teilen der Inhalte im Vordergrund.
Zuvor hat er bei SoundCloud gearbeitet, einem Musik-Start-Up, das ebenfalls von zwei Schweden nach Berlin geholt wurde. Music-Sharing Plattformen wie SoundCloud oder last.fm gibt es, seit Musik online zugänglich ist und das MP3-Format erfunden wurde. Book-Sharing Plattformen werden jetzt mit der zunehmenden Verbreitung des eBooks ebenso populärer und gefragter.
Von der Musik kommend möchte Berggren nun die Vernetzung auch in der Welt der Bücher möglich machen, ohne das Lesen selbst abzuschaffen. “We don’t want to destroy reading, we just want to make it more transferable and networked,” so der Schwede im Interview. Readmill ist zwar nicht das erste Start-up-Unternehmen, das sich mit dem Thema Book-Sharing beschäftigt und Lesern von eBooks eine Möglichkeit zum Austausch von Leseerfahrungen und Randnotizen bietet, aber Readmill sticht heraus. Es kann mehr als andere soziale Netzwerke oder Plattformen wie z.B. lovelybooks oder findings.
Die Readmill-Software öffnet das eBook in einem sehr leserfreundlichen Format und einer benutzerfreundlichen Oberfläche. Jeder User hat ein Nutzerprofil, ähnlich wie bei anderen sozialen Netzwerken. Readmill hat ohne Frage Potenzial, denn es macht sogar Skeptikern Lust auf das Lesen eines eBooks. Es soll aber nicht nur die Verbindung des Lesers zum eBook oder zwischen den Lesern stärken, sondern auch wichtige Daten bezüglich des allgemeinen Leseverhaltens auswerten. Diese Daten können dann an Verlage weitergegeben und ausgewertet werden. Readmill verspricht sich davon, einen wichtigen Beitrag zur Analyse des Marktes zu leisten, denn es weiß nicht nur, was gekauft wird, sondern ganz genau, was gelesen wird. Neben Verlagen könnten sich auch Autoren für Readmill interessieren, da die Plattform eine engere Vernetzung mit den Lesern ermöglicht und die Autoren genau feststellen können, was gerne gelesen wird.
So vernetzt Readmill Leser, Verleger und Autoren miteinander und bis jetzt ohne jegliche Haken, oder vielleicht doch nicht?
Wer Angst vor Big Brother hat, für den ist Readmill wohl das falsche Format, denn es sieht faktisch alles. Auf Readmill kann genau verfolgt werden, wer wie viele Bücher in welcher Geschwindigkeit an welchem Ort und mit was für Randnotizen und Markierungen gelesen hat. Das Leseverhalten eines Users wird präzise gespeichert und abgebildet. Faszinierend ist das schon – ob man das allerdings möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Readmill befindet sich gerade noch in der Betaversion. Man kann nur durch einen Invite-link, eine Einladung, User werden. 10’000 Nutzer sind es derzeit. Das Interesse am Format besteht schon jetzt ohne Zweifel.
Neben der präzisen Datenspeicherung gibt es derzeit noch einen zweiten Haken. Readmill ist bis jetzt, bald soll sich das ändern, nur für iPad-User mit entsprechender App zugänglich. Mit einem Kindle, Nook oder dergleichen kommt man nicht weit. Ein wenig elitär wie wir finden, wer hat als Student denn schon ein iPad? Das Team von Readmill gibt im Moment, was es kann, aber die Umsetzung ist sehr aufwändig, die Programmierung kompliziert, und auch Amazon sperrt sich derzeit noch gegen die Idee. Von dieser sind zumindest wir überzeugt, von der Umsetzung leider noch nicht ganz. Da das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt, sollte man zu diesem Zeitpunkt aber Nachsicht walten lassen.
Henrik Berggren jedenfalls hat eine große Vision; eine Vision, die das Lesen revolutionieren soll. „Books have a big future“ ist der Slogan von Readmill. Warum? Bücher gibt es doch schon lange. Und warum haben sie erst jetzt eine große Zukunft? Und wieso heißt es nicht „eBooks have a big future“? An dieser Stelle im Interview lacht Berggren und steht auf, um seinen Mitarbeitern zu verraten, was wir ihn gerade gefragt haben. Der Slogan hatte schon zuvor zu Diskussionen im Readmill-Team geführt.
Berggren erklärt uns, dass es ihm und seiner Firma um den Text an sich gehe: „Good books is what we care deeply about“. Readmill will mit dem Text eines Buches arbeiten. Das Buch ist der Text, egal ob man ihn auf einem eBook-Reader liest oder auf Papier. Berggren und sein Team wollen, dass das Buch bestehen bleibt, und halten selbst nicht viel von Formaten wie dem „enhanced ebook“. Das Problem sei nicht, sich in einem guten Text, einer guten Geschichte zu verlieren und damit Spaß zu haben, so Berggren. Der Text allein habe immer eine eigene Kraft und sein eigenes Potenzial. Ihm zufolge sei es nicht nötig, ihn künstlich mit Videos und Clips anzureichern. Readmill möchte den Text selbst mitteilbar machen und vernetzen, sodass sich so ganz neue Möglichkeiten des Lesens ergeben. Das Lesen zwischen den Zeilen ist dabei nur eine Möglichkeit von vielen.
Fotos (oben/unten): © Caroline Merz. Foto (Mitte): © Henrik Berggren.
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Super Artikel! Über den Gegensatz von Studenten und „elitär“ musste ich allerdings ein bisschen schmunzeln.
Daumen hoch, ihr beiden!
Aber das…: „Readmill hat ohne Frage Potenzial, denn es macht sogar Skeptikern Lust auf das Lesen eines eBooks.“…glaube ich noch nicht so ganz! ;-)