Vier Tage lang sind wir auf dem Prosanova Festival in Hildesheim und feiern die deutschsprachige Literatur. Mit Lesungen, Gesprächen, szenischen Aufführungen von Nachwuchsautoren und den Größen des Betriebs. Was wir alles erlebt und gehört haben, erfahrt ihr im Festival-Tagebuch.
+++ Die Peripheri +++
Marc: Gestern Abend sind wir in Hildesheim angekommen. Es hat ein bisschen gedauert, bis wir die leerstehende Hauptschule gefunden haben, in der dieses Jahr das Prosanova stattfindet. Die Hälfte des Weges wurden wir von einer quakenden Gans verfolgt. Als wir sie endlich abgeschüttelt haben, trifft uns der erste Schock: Die Schule ist wirklich so ätzend, wie wir befürchtet hatten.
Eigentlich hatte man gehofft, das alles weit hinter sich gelassen zu haben. Diese langen, langweiligen, miefenden Flure. Gegen diesen ersten Eindruck helfen weder farbige Beleuchtung noch die netten Damen an der Information. Auch der Innenhof mit Bühne wirkt gestaucht, die Verbindungsgänge und Räume bieten wenig Platz, vor allem wenn alle Besucher von einer Veranstaltung zur anderen wandern. Da bleibt nicht viel Luft. Mitschuld trägt aber auch die Erwartung.
Denn das Prosanova ist ein Nomade, wechselte es doch aller drei Jahre die Location innerhalb von Hildesheim. Nachdem es zuerst in einer Fabrikhalle, dann in einer Kaserne und später auf einem Flugfeld beheimatet war, ist das Prosanova 2014 nun in eine beengte Schule eingekehrt. Aber gute Literatur und ihre Vermittlung muss eben auch in begrenzten Räumen funktionieren. Und das tut sie (trotz der oben genannten Missstände) an vielen Stellen. Sei es durch Kreativität, den Blick fürs Detail oder der Symbiose aus beiden.
Im Innenhof vor der Bühne führen Palettenwege zu bequemen Sofainseln mit Tischchen und Blumen. Wem das Rumsitzen zu langweilig ist, der kann sich mit einer Runde Aspahltscrabble bei Laune halten. In der Schule fällt besonders ein Raum dadurch auf, dass er mit viel Liebe gestaltet wurde: Ein Durchgangszimmer, in dem die Bettenabteilung von IKEA mit einer Schulbibliothek verschmolzen ist. Hier steht alles auf Büchern, die Bühne, die Matratzen mitsamt den dazugehörigen Nachttischen. Solche Ideen finden sich überall, manchmal aber erst auf den zweiten Blick.
Und was macht die Literatur an so einem Ort? Sie experimentiert, will sich weiterentwickeln, neu erfinden und austobend. Das Prosanova ist ein Art Chemiebaukasten für Literaturbegeisterte. Die inszenierten Räume, die Ausstattung, die ganze Peripherie des Festivals sind die Instrumente, mit denen am geschriebenen und gesprochenen Wort herumexperimentiert wird. Wir sind gespannt darauf, welche Buchstabensuppen hier in den nächsten vier Tagen zusammengebraut werden.
+++ Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer +++
Johannes: So ziemlich der schlimmste Ort der Jugend ist die Turnhalle. Üble Erinnerungen kommen da hoch. Jede Woche eine neue Lektion in Peinlichkeit und Scham. Ausgerechnet hier findet die szenische Lesung Ändere den Aggregatzustand deiner Trauer statt. Gute Wahl! Denn in dem Text von Katja Brunner und Jasper Tibbe geht es vor allem um peinliches Unbehagen. Da lümmeln fünf Gestalten an angsteinflößenden Turngeräten herum. Alle so hässlich angezogen wie möglich, in lila Trainingsanzügen, silbernen Shorts gepaart mit weißen Stirnbändern, Fußballtrikots in Neonfarben – die totale Bad Taste-Lesung.
Dann beginnt der Text und jede Stimme nimmt eine andere Rolle ein. Da sind: ein Kind, eine Mutter, ein Fuchs, der Tod und noch mehr. Sie überlagern sich, reden durcheinander und jagen sich hinterher wie Gedanken, die kein Ende finden. Einig sind sie sich allein darin, dass alles scheiße ist: „Alltägliche Handlungen sind sinnfreie Verzierungen des Leidens“, sagt eine Stimme. Der Schmerz bleibt, selbst wenn man immer mehr Alltag anhäuft, um es zu verbergen. Da hilft nichts, weder Konsum, Sex oder Flucht. Stattdessen ist alles peinlich, totaler Trash. Ständig erzählen die Figuren von moralischen Grauzonen: Ist es schlimm, dass ich ausversehen gerade eine Schnecke zertreten habe? Muss ich mich dafür schämen? Ist meine kleine Freude darüber fies?
Es ist zum Verzweifeln. Vielleicht braucht man eine Anleitung, um all die Fettnäpfchen zu umgehen, die das Leben bereithält. So aber werden sich die Figuren selbst immer peinlicher und stellen das krass aus. Sie kriechen in Schlafsäcke und murmeln ungeschickt durch die Halle und machen affige Gymnastikübungen. Sie scheitern absichtlich und betonen ihre Hilflosigkeit angesichts eines Lebens, das nicht mehr als eine Reihe von Demütigungen für sie bereithält. Und der Sportunterricht ist erst der Anfang. Am Ende hilft da noch nicht einmal der Selbstmord: „P.s.:“, heißt es in einem Abschiedsbrief, „Ich möchte in meinem Down Under-T-Shirt begraben werden.“
+++ Emotions can be expressed by the shape of a balloon +++
Johannes: Comiclesungen sind immer ein bisschen schwierig. Soll man jetzt einfach eine Seite zeigen und die Sprechblasen vorlesen? Meistens ist das ein zu wenig Text für eine Lesung. Und was ist mit den Bildern? Soll man die etwa auch „vorlesen“, also beschreiben? Ziemlich affig. Der Zuschauer ist sowieso viel schneller, kann die Seite mit einem Blick aufnehmen, erkennt die Dynamik zwischen den Bildern. Viel schneller erschließt sich ihm, was durch eine Erklärung nur dürftig nachgeholt werden kann. Bei der Comiclesung Emotions can be expressend by the shape of a balloon funktioniert das Vorlesen allerdings erstaunlich gut.
Zuerst stellt Aisha Franz ihren Spionagethriller Brigitte vor. Die Bilder werden einzeln auf eine große Leinwand projiziert, eins nach dem anderen wie eine Diashow. Plötzlich entsteht ein kleiner Film im Kopf. Weil die einzelnen Bilder nur im Detail voneinander abweichen, kleine Bewegungen zeigen und ohne viel Text auskommen, enstehen richtige Filmsequenzen. Der Comic als Daumenkino. Das verdeutlicht nicht nur, wie geschickt Franz die Geschichte von Brigitte, einer Hündin/Geheimagentin, erzählt. Es zeigt auch, wie nah sich Comic und Film sind.
Derselbe Effekt funktioniert bei der Vorstellung von Dietmar Daths Menschen wie Gras wie leider nicht so gut. Daths Stimme wird vom Mikrofon verschluckt, die Bilder verlieren ihren Zusammenhang. Allerdings gibt es Ersatz. Denn Oliver Scheibler, der Illustrator von Menschen wie Gras wie, spielt seine persönliche Lieblingsmusik, die ihn zu den Bildern inspiriert hat. Psychedelischer Rock und elektronische Musik, die an Vangelis erinnert und den Bildern eine Dynamik verleiht, die sie miteinander verknüpft und die Linien zum Tanzen bringt.
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