Nicola Denis übersetzt französische Literatur ins Deutsche. Im Interview berichtet sie von selbstkritischen Momenten, warum eine gute Übersetzung manchmal nicht sonderlich ökologisch ist und ein (Sprach)Korsett dennoch genug Platz zum Atmen lässt.
Interview von Lena Marie Reimers
Was begeistert Sie an Ihrer Arbeit?
Ich muss sagen, dass ich jeden Morgen wirklich mit Freude aufstehe und mich an den Schreibtisch setze. Alleine deswegen, weil man mit jedem Buch ein neues Universum, neue Stimmen sowie Autoren und Autorinnen entdeckt. Außerdem ist es für mich als Deutsche, die in Frankreich lebt, eine Möglichkeit, beide Sprachen lebendig zu halten. Das Übersetzen ist also auch Bezug zur Heimat, zu meiner Muttersprache und eine Art und Weise in ihr weiterzuleben.
Stoßen Sie da manchmal an Ihre Grenzen, weil sich ein Wort oder ein Zusammenhang nicht übertragen lässt?
Auf jeden Fall, das gibt es immer. Gerade kämpfe ich ein bisschen mit einer Balzac-Neuübersetzung von »Cousine Bette«. Also wirklich tiefstes 19. Jahrhundert – da fehlt mir dann manchmal der Bezug zur Gegenwart, zumal Balzac natürlich eine spezielle Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ist, ein Mann auch noch, zwischen dem und mir bald 200 Jahre liegen. Hinterher, wenn ich das gedruckte Buch in der Hand halte, gibt es diese etwas selbstkritischen Momente, in denen ich denke, ich hätte alles ganz anders und besser machen können. Das ist wirklich eine nicht enden wollende Arbeit.
Vorausgesetzt es gibt sie überhaupt, was macht die ideale Übersetzung aus?
Das ist eine gute Frage, ob es die ideale Übersetzung überhaupt gibt. Sie sollte auf jeden Fall maximal treu sein und trotzdem so deutsch, also so idiomatisch, wie möglich klingen. Ich versuche, soweit es geht, nah an der Syntax zu bleiben – gerade bei Balzac, weil die Sätze ja auch immer etwas von seiner Wahrnehmung aussagen. Er erfasst eine Landschaft, erklärt, wie das Kleine mit dem Großen zusammenhängt und entfaltet diese Eindrücke in seinen Sätzen. Die kann man dann nicht einfach auflösen und glätten, wie es früher oft gemacht wurde.
Was das Idiomatische betrifft, kommt einem manchmal das Äquivalenzverfahren zugute. Ich wurde zum Beispiel einmal gefragt, wie denn das Wort »Backfisch« auf Französisch heiße, weil das in der Übersetzung von Éric Vuillards »Die Tagesordnung« vorkommt. Das gibt es so im Französischen nicht, wahrscheinlich steht im Original »une très jeune fille«. »Backfisch« passte einfach sehr gut in diesen zeitlichen Kontext und in das, was man damit assoziiert. Wenn ich an anderen Stellen das französische Wort nicht ins Deutsche übertragen kann, kann ich wiederum ab und zu Wörter wie »Backfisch«, »Vater-Mörder-Kragen« oder »Wagenschlag« einflechten. Wenn mir das gelingt, freue ich mich auch ein bisschen. Ein Übersetzerkollege hat einmal gesagt, dass man als guter Übersetzer oder gute Übersetzerin einfach nur besonders gut Deutsch können müsse. Für mich ist die Kunst der Übersetzung diese syntaktische Treue und die Idiomatizität im Deutschen.
Wie lange brauchen Sie für eine Übersetzung?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin auch niemand, der vorher kalkuliert und dann jeden Tag ein bestimmtes Pensum an Seiten schaffen muss. Oft mache ich auch zwei Projekte parallel. Gerade jetzt zum Beispiel bei Balzac merke ich, dass mir der Gegenwartsbezug fehlt. Außerdem bin ich konzentrierter, wenn ich weiß, dass ich mich heute Nachmittag in eine andere Welt versetzen kann, dann bin ich präsenter für das, was ich morgens mache.
Manchmal muss es natürlich etwas schneller gehen. Zum Beispiel mussten die Vuillard Übersetzungen zum Teil zwischen andere Projekte geschoben werden. Für »Die Tagesordnung« hatte der Autor damals den Prix Goncourt im November gewonnen und dann sollte die Übersetzung vorgezogen werden. Am Ende hatte ich fünf Wochen Zeit. Das ist natürlich nicht viel, es sind aber auch dankenswerterweise schmale Bücher. Beim Übersetzen kommt man dann in so einen flow, der für den Text gar nicht schlecht ist, weil man diesen Elan und diese Dichte auch der Übersetzung anmerkt.
Viele Ihrer letzten Übersetzungen drehen sich um historische Ereignisse: Éric Vuillard hatten Sie schon genannt, aber auch Olivier Guez und Ginette Kolinka. Wird Ihnen von Seiten der Verlage mittlerweile eine gewisse Expertise zugesprochen oder suchen Sie sich die Texte selber aus?
Das ist sicher nicht komplett zufällig. Éric Vuillard habe ich damals von Matthes & Seitz angeboten bekommen und daraufhin hat mir die Lektorin von Aufbau dann Olivier Guez nahegelegt. Auch wenn die Texte sprachlich natürlich gar nicht zu vergleichen sind, hat sie da eine Verbindung gezogen. Und dann habe ich für Aufbau auch dieses Jahr Santiago Amigorenas »Kein Ort ist fern genug« übersetzt, dessen Geschichte auch wieder während der Nazi-Zeit spielt und von einem emigrierten Juden in Argentinien handelt. Letztendlich sind diese Texte sprachlich sehr unterschiedlich, deswegen weiß ich gar nicht, ob man da so eine Gemeinsamkeit herstellen kann.
Haben Sie beim Übersetzen eine bestimmte Vorgehensweise oder Rituale?
Meine persönliche Vorgehensweise ist etwas speziell, weil ich das Buch nur in ganz seltenen Fällen vorher lese. Das kann mir auch gefährlich werden, aber ich entdecke es erst richtig beim Übersetzen. Das ist insofern besonders schön, weil ich mir sehr lange den Blick der Leserin auf den Text bewahre.
Es gibt eine Übersetzungstheorie von George Steiner, die mit dem Vertrauen beginnt, dass sich ein Text überhaupt in eine andere Sprache übertragen lässt. Dieses Vertrauen, fast schon eine gewisse Unschuld der Leserin gegenüber dem Text, möchte ich lange wahren. Das ist auch für den Rhythmus wichtig. Wenn ich an jedem Satz eine Viertelstunde sitzen und nachdenken würde, dann ginge dieser Gesamtrhythmus verloren. Deswegen erst einmal dieses relativ schnelle Durchkommen, damit sich etwas von diesem Schwung auch auf den Textatem überträgt. Nachher wird das dann alles natürlich noch mal im Kleinen frisiert. Wobei ich sagen muss, dass ich schon hier möglichst deutsch formuliere.
Wenn ich diesen ersten Durchgang fertig habe, lese ich alles am Computer Satz für Satz noch einmal durch, vergleiche es mit dem Original, unterstreiche noch problematische Wörter und notiere Fragen am Rand. Meistens mache ich nur noch einen dritten Durchgang, aber dann ausgedruckt. Das ist ganz wichtig für mich, obwohl nicht sehr ökologisch, aber ich brauche dann diese objektive Distanz auf Papier zum Text. Und dann setzte ich mich mit nichts anderem als einem gespitzten Bleistift hin und schleife in diesem Durchgang noch ordentlich am Text. Das mache ich wahnsinnig gerne im Café, weil die Übersetzung nicht nur durch das Papier, sondern auch durch den Ort objektiviert wird.
Wie wichtig ist bei dem Übersetzungsprozess von Gegenwartsliteratur der Austausch mit den jeweiligen Autor*innen? In »La méthode Vuillard« beschreiben Sie präzise Anweisungen vom Autor an seine katalanische Übersetzerin bezüglich der verschiedenen Bedeutungsebenen der Worte, ihrer Klänge, ihrer Schreibweisen usw. Ist das hilfreich oder eher hinderlich?
Es ist auf jeden Fall immer hilfreich. Mit Éric Vuillard hatte ich zum Beispiel sehr schöne Café-Sitzungen. Weil seine Texte im Französischen oft assoziativ sind, muss ich in der Übersetzung eine Entscheidung treffen. Da hilft es mir, wenn er dann eine Richtung vorgibt. Außerdem ist er immer darauf bedacht, dass seine Texte rhythmisch und musikalisch klingen. Das macht unsere Zusammenarbeit sehr interessant, wenn es um einzelne Sätze geht. Dann lese ich ihm die Varianten vor und er sagt, welche er schöner, klangvoller findet – obwohl er überhaupt kein Deutsch versteht. Wenn es dann semantisch stellenweise etwas unscharf ist, macht ihm das wenig aus. Das zeigt letztlich ja, wie sich der Sinn auch durch die Musikalität vermittelt und gerade das ist ihm wichtig. Diese genauen Anweisungen, die Sie angesprochen haben, sind zwar ein Korsett, aber in diesem Korsett haben wir als Übersetzer und Übersetzerinnen sehr viele Entscheidungsfreiheiten. Und das weiß Vuillard natürlich, denn am Schluss dieser Anweisungen schreibt er: »Sehen Sie selbst!«
Gesellschaftskritische Texte wie die von James Baldwin oder auch Annie Ernaux wurden nicht zuletzt durch aktuelle Bewegungen wie Black Lives Matter oder von jungen Feministinnen* wiederentdeckt und werden momentan neu übersetzt. Allerdings werden Stimmen laut, dass auch die Übersetzer*innen solcher Texte diese diverse Lebensrealität widerspiegeln sollten. Inwieweit spielt denn die Realität der Übersetzer*innen bei der Arbeit eine Rolle? Oder anders gefragt: kann ein weißer Cis-Mann Annie Ernaux übersetzen?
Meine Tochter hat mich letztens gefragt: »Wenn du jetzt ein Buch geschrieben hättest, würdest du lieber von einer Frau oder einem Mann übersetzen lassen?« Und ich habe wie aus der Pistole geschossen gesagt: »Von einer Frau.« Das ist natürlich interessant, wie man reagiert, wenn es einen selber betrifft. Aber als Übersetzerin sehe ich das anders.
Warum?
Jeder Text ist schon per se das Andere. In meiner Realität ist es egal, ob es von einem Mann geschrieben wurde, von einer bulgarischen Autorin wie Albena Dimitrova, die im Sozialismus großgeworden ist und nun auf Französisch schreibt, oder ob es Texte aus dem 19. Jahrhundert sind. Diese Lebensrealitäten sind immer sehr weit von meiner eigenen entfernt. Und dann bedarf es Taktgefühl und Sensibilität, die beide zu unserer übersetzerischen Professionalität zählen, sodass wir den Text trotzdem übersetzen können. Eigentlich finde ich, dass das möglich sein muss, aber es ist natürlich ein Drahtseilakt. Umgekehrt halte ich es aber für absolut legitim, wenn Annie Ernaux nicht möchte, dass ein Mann ihren Text übersetzt.
Das liegt vielleicht auch an Ernaux‘ autobiographischen Bezügen. Es könnte aus praktischer Sicht auch arbeitssparend sein, wenn Übersetzer*innen von den jeweiligen Diskursen betroffen sind.
Als Übersetzer oder Übersetzerin muss man mit sich selber ehrlich sein, ob man sich eine Übersetzung zutraut. Ein Beispiel bei mir wäre Pauline Harmange, eine 25-jährige Feministin, die diese sehr viel beachtete Streitschrift »Ich hasse Männer« geschrieben hat, die im August in Frankreich und im November in Deutschland erschienen ist. Obwohl das wirklich ein ganz kleiner, schmaler Text ist, habe ich mich gefragt, ob ich das kann und tatsächlich die Richtige dafür bin. Erstens, weil ich in dem Diskurs nicht so firm bin, und zweitens, weil die Autorin fast meine Tochter sein könnte. Ich habe mich während dieser Übersetzung dann mit meinen Töchtern ausgetauscht und die Lektorin bei Rowohlt war ebenfalls jünger. Da hatte ich schon den Eindruck, dass der Verlag eine weibliche Übersetzerin haben wollte. Trotzdem würde ich nicht sagen wollen, dass nur das eine oder das andere ginge.
Welches deutschsprachige Buch würden Sie gerne, wenn Sie könnten, für eine französische Leserschaft erfahrbar machen?
Eine Autorin, die ich sehr verehre, ist Brigitte Kronauer als Sprachkünstlerin und als Vorbild fürs Schreiben. Sie ist zum Beispiel überhaupt nicht übersetzt, weil ihre Texte sowohl sprachlich als auch kulturell sehr, sehr schwer zu vermitteln wären. Ich wüsste gar nicht, wer das in Frankreich lesen würde. Wenn ich französischen Freunden und Freundinnen davon erzähle, wünsche ich mir aber, dass sie zumindest die Möglichkeit dazu hätten.
Vielen Dank, Nicola Denis, für diese wunderbaren Einblicke!
Nicola Denis ist Literaturübersetzerin vom Französischen ins Deutsche. Sie hat 2001 mit einer komparatistischen Arbeit zur Übersetzungstheorie promoviert und übersetzt, neben Klassikern wie Honoré de Balzac, Gegenwartsautor*innen wie Éric Vuillard, Philippe Lançon und Marie-Claire Blais. Sie lebt in Westfrankreich.
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