Chico Buarque zeigt die brasilianische geschichtliche Erfahrung aus einer großartigen Perspektive, die den Abstand zwischen Literatur und Gesellschaft verringert.
Im November 2010 stürmte die brasilianische Polizei Vila Cruzeiro, eine der größten Favelas in Rio de Janeiro, mit einem Großaufgebot an Polizisten, Hubschraubern und Panzern. „Vila Cruzeiro gehört wieder zum Staat“, ließ der Vizechef der Polizei nach dem Einsatz verlauten – was so klang, als ob Vila Cruzeiro irgendwann nicht mehr zum Staat gehört hätte. Die Kollision zwischen Drogenhändlern und Polizei ist auf keinen Fall etwas Neues. Neu ist, dass die Angriffe live übertragen werden, um das Gefühl von Ordnung und Sicherheit herzustellen, und nicht zuletzt um die Macht der Regierung zu demonstrieren. Natürlich ist das Schönfärberei, die die soziale Probleme missachtet, und die Ursachen des Drogenhandels nicht erkennt. Wer die Augen davor verschließt, wird große Schwierigkeiten haben, die heutige Lage in Brasilien zu begreifen. Aber was haben solche Ereignisse mit Literatur zu tun?
Der Dichter Machado de Assis war Ende des 19. Jahrhunderts ein Vorbild für zukünftige SchriftstellerInnen und KritikerInnen und begründete eine Tradition. Machado schlug vor, dass die brasilianische Literatur sich mit dem „intimen Sentiment des Landes“ befassen sollte. Im Gegensatz zu der Betrachtung pittoresker Vielfältigkeit der Landschaften sah er die Aufgabe des Dichters darin, einen scharfen Blicken auf gesellschaftliche Verhältnisse zu werfen, um ihre objektiven Strukturen zu ergründen und tiefgehend zu verstehen. Die Literatur wäre dann eine Möglichkeit, sich sowohl mit dem geschichtlichen Erbe als auch mit der dringenden Gegenwart auseinanderzusetzen.
Einer, der diese Tradition im großen Teil fortsetzt, ist Chico Buarque, der im November mit dem Jabuti-Preis, dem wichtigsten brasilianischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Sein letztes Buch heißt „Leite derramado“ und erschien 2009 bei Companhia das Letras. Der Titel bezieht sich auf ein Sprichwort, das lautet: „Não adianta chorar pelo leite derramado“, was wörtlich bedeutet: „Es bringt nichts, um die vergossene Milch zu weinen“. Geschehen ist geschehen, statt zu jammern, muss man etwas gegen die Probleme unternehmen. Und genau das macht Chico Buarque. In „Leite derramado“ legt er seinen Finger auf viele Wunden der brasilianischen Geschichte. Sein Protagonist festigt eine bestimmte Klassenperspektive, und damit entschleiert der Autor nicht nur Unsitte und Vorurteile, sondern auch die allgemeine Folgen der Kolonialzeit, deren Spuren immer noch überall sichtbar sind.
Die Geschichte handelt von einem 100-jährigen und kranken Mann, der in einem verpesteten Krankenhaus allein liegt und jedem, der vorbeikommt, sein ganzes Leben erzählt, von der alten Verwandten bis zum Ururenkel. Eulálio d’Assumpção, der Ich-Erzähler, stammt aus einer der adligen Familien, die im 19. Jahrhundert mit der portugiesischen Königsfamilie nach Rio de Janeiro ausgewandert sind und im Laufe der Zeit einen ökonomischen Machtverlust erleben, sowie moralisch verfallen. Alle wichtigen historischen Ereignisse der zeitgenössischen brasilianischen Geschichte werden entsprechend sowohl der Bewegung seines Gedächtnisse als auch seinen Interessen betrachtet und zusammen mit seinen persönlichen Erlebnissen gestellt.
Trotz der umfangreichen Geschichte ist das Buch relativ kurz, es hat weniger als 200 Seiten und ist viel mehr als eine bloße Familiengeschichte oder ein historischer Roman, vor allem weil die Entfernung von der Vergangenheit sich minimal zeigt. Anders gesagt, obwohl die Erzählung zwischen Erinnerung und Realität schwebt, und manche Vorkommnisse sich mehrmals wiederholen, lässt einen das Gefühl nicht los, dass die Vergangenheit immer anwesend ist, nicht so richtig verarbeitet wurde, und sich arrogant vor die Nase des Lesers stellt.
Deswegen wäre es nicht unmöglich in „Leite derramado“ ähnliche „Nachrichten“ wie die Eroberung von Vila Cruzeiro versteckt zu finden. Nicht als Hintergrund, nicht als Szenerie einer blutigen Schlacht-Handlung, wie es klingen könnte. Sondern als eine Säule unter anderen, die das ganze Haus wackelig stützen, und dessen Schwanken nur durch das „intime Sentiment des Lands“ sichtbar ist.
Chico Buarque liest auf Portugiesisch das erste Kapitel von „Leite derramado“
Ein Interview mit Chico Buarque auf Deutsch
Das letzte Buch von Chico Buarque Budapest wurde bei Fischer Verlag publiziert. Ich weiß nicht, wann „Leite derramado“ auf Deutsch erscheinen wird. Hoffentlich bald! Wer das Buch auf Portugiesisch lesen möchte, findet es in der Buchhandlung a Livraria.
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- Nachrichten aus Brasilien - 12. Januar 2011
Wollen wir hoffen, dass der Fischer Verlag sich nicht bis zur Frankfurter Buchmesse 2013 (Gastland Brasilien) Zeit lässt, sondern das Buch früher veröffentlicht.
Hoffe ich auch! Ich finde es sehr schön, dass wir mal auf dem Blog ein bisschen über die Literatur aus einer anderen Ecke der Welt erfahren dürfen!