„Musical ist nicht nur Show“

Düster und sexy – so präsentieren sich die jungen Studierenden auf dem Plakat zu ihrem Musical-Projekt Lieber tot – und haben so wahrscheinlich auch meinen Blick gefangen, als ihre Werbung im Berliner Fenster aufflackerte. Traditionell stellt sich der zweite Jahrgang des Studiengangs Musical an der Universität der Künste (UdK) am Semesterende mit einer Musical-Collage vor. In diesem Jahr zeigten die zwölf Studierenden eine Neuinterpretation von William Shakespeares Romeo-und-Julia-Stoff.

Musical "Lieber tot" UdK
Pablo Martinez, Ensemble | © Daniel Nartschick

Lange musste ich nicht überlegen, ob ich eine Karte kaufe. Ich gebe es zu, ich liebe Musicals.

Moment mal, hat sich am letzten Satz niemand gestört? Ja, in gebildeten Kreisen muss man es wirklich fast „zugeben“, Musicals zu mögen. Von allen Seiten werden sie belächelt. Während sich Schauspiel, Ballett, Oper und klassische Musik als Hochkultur verstehen, soll das Musical Show für Menschen mit Hang zum Kitschigen sein. Zugegeben passt die etwas ausgelutschte Geschichte von Romeo und Julia ganz gut zu dieser Genre-Beschreibung. Grundlegend leuchtet mir aber nicht ein, warum gerade bei der Kombination von Tanz, Gesang und Schauspiel das Künstlerische verloren gehen soll. Und mag man Romeo und Julia oder nicht – auch an den prestigeträchtigen Theaterhäusern wird es rauf- und runtergespielt. Zudem beansprucht gerade die UdK einen Ruf, vor allem die künstlerische Selbstverwirklichung ihrer Studierenden zu fördern.

Wie ist es also wohl im Jahr 2017, Musical an einer der renommiertesten Kunsthochschulen zu studieren? Und was haben sich die Darsteller*innen, die nicht zuletzt an der eigenen Uni von den Kommiliton*innen anderer Fächer als Entertainer*innen abgetan werden, bei ihrer Inszenierung gedacht? Weil mir diese Fragen nach der Aufführung nicht aus dem Kopf gingen, habe ich mich mit zwei der Studierenden, Tae-Eun Hyun und Didier Borel, ein paar Tage später auf einen Kaffee getroffen. Der Satz „Es ist nicht nur Show!“ fiel dabei häufig.

https://vimeo.com/216970268

Warum Romeo und Julia?

Die Amme und der Tod haben mit fünf Romeos und fünf Julias alle Hände voll zu tun in der UdK-Adaption Lieber tot. Wer bei der Stückauswahl mit zwei star-besetzten Hauptrollen gerechnet hat, wird vom Gegenteil überrascht. Hier darf jede*r mal ran. Trotzdem spielt jede*r Darsteller*in eine andere Rolle. Die zwölf Studierenden bündeln, was wahrscheinlich über die Jahre hinweg beim Vergleich mehrerer Romeo-und-Julia-Adaptionen verschiedenster Sparten schon klargeworden ist: Shakespeares Textvorlage lässt unglaublich viel Spielraum in der charakterlichen Interpretation seiner Figuren.

Begeistert war die Gruppe von der Stückauswahl am Anfang allerdings nicht, erklären mir Tae-Eun und Didier. „Musical und das Thema erste große Liebe?“, da fiel auch den jungen Expert*innen nicht mehr viel ein, was man den Musical-Kritiker*innen entgegnen könnte. Außer dem von Regisseur und Theater-Professor Mathias Noack vorgegeben Thema war die Arbeit am Stoff aber sehr frei. „Nach der Lektüre des Stücks konnte jeder ein paar Songs vorbereiten, die er passend fand. Gemeinsam haben wir dann entschieden, zu welcher Julia oder welchem Romeo und an welche Stelle im Musical, ein Lied jeweils passte“, beschreibt Tae-Eun den Probenbeginn.

Am Anfang des Stücks spricht Julia Romeos Text und Romeo Julias. Das hat, glaube ich, niemand gemerkt. Und das ist eben Romeo und Julia 2017. Das was ein Mann sagt, kann auch eine Frau sagen und andersrum. – Didier Borel

Am Ende ist der Gruppe eine Überraschung gelungen – auch für die, die Shakespeares Stück schon in verschiedenen Versionen kannten. Man könnte fast sagen, die Gender-Identitäten der Darsteller*innen spielten bei der Besetzung keine Rolle. Bei genauerem Hinsehen muss man aber erkennen, genau damit wurde gespielt. Sticht es doch ins Auge, dass in einer Gruppe von fünf Julias ein Mann tanzt. Nikko Forteza Rumpf bildet mit seiner Partnerin Andrea Wesenberg ein Paar, bei dem die konventionell-heteronormativen Geschlechterrollen von Mann und Frau vertauscht sind. Auch ein lesbisches Paar kommt im Stück vor. „Am Anfang des Stücks spricht Julia Romeos Text und Romeo Julias. Das hat, glaube ich, niemand gemerkt“, klärt mich Didier auf. Ich stimme zu. „Und das ist eben Romeo und Julia 2017. Das was ein Mann sagt, kann auch eine Frau sagen und andersrum.“ Musical sei vor allem „eine schwule Welt“, so der UdK-Student. Und schwul zu sein, das sei vielleicht in Berlin normal, aber noch nicht überall. Ihr Musical beispielsweise in Russland aufzuführen, trauten die beiden sich nach eigener Aussage nicht.

Ein heutiges Musical muss eine Tiefe haben. Es muss eine Geschichte haben, die ein heutiges Thema anspricht. Man kann sehr kritisch sein. Es ist nicht nur Show. Es erzählt von Problemen und versucht, sie zu lösen. – Didier Borel

Was ist euch persönlich bei der Erarbeitung eines modernen Musicals wichtig?

„Ein heutiges Musical muss eine Tiefe haben. Es muss eine Geschichte haben, die ein heutiges Thema anspricht. Man kann sehr kritisch sein. Es ist nicht nur Show. Es erzählt von Problemen und versucht, sie zu lösen.“ Dabei könne aber ruhig eine historische Stoffgrundlage herangezogen werden – wie beispielsweise eben Romeo und Julia. Didiers Zusammenfassung klingt für mich doch ganz nach dem Anspruch der politischen Theaterregisseur*innen. Geht eine gesellschaftskritische Botschaft verloren, nur weil sie mit einem Show-Moment verbunden wird, bei dem es Glitzerkonfetti regnet? Oder berührt man das Innere eines Menschen mit solchen Effekten nicht noch tiefer, trifft das Herz? Ich selbst verlasse Musicals zumindest meist hoch elektrisiert und kann kaum von der erlebten Geschichte loskommen.

Für mich ist es wichtig, warum die auf der Bühne jetzt gerade tanzen oder warum die jetzt gerade singen. Man sollte schon einen Grund haben – eben nicht nur weil gerade lange nichts mehr gesungen und nicht mehr getanzt wurde. Meine Julia kann nicht anders, als sich in einem bestimmten Moment mit dem Körper auszudrücken und sie muss das jetzt singen! – Tae-Eun Hyun

Tae-Eun betont dabei auch das Zusammenfließen der Disziplinen Schauspiel, Musik und Tanz: „Für mich ist es wichtig, warum die auf der Bühne jetzt gerade tanzen oder warum die jetzt gerade singen. Man sollte schon einen Grund haben – eben nicht nur weil gerade lange nichts mehr gesungen und nicht mehr getanzt wurde. Meine Julia kann nicht anders, als sich in einem bestimmten Moment mit dem Körper auszudrücken und sie muss das jetzt singen!“ Gerade in alten Produktionen wie zum Beispiel Cats seien da die Abläufe noch viel mechanischer und die aktuellen Themen fehlten. Da sei auch das Studium an der UdK etwas Besonderes. In Berlin ginge es darum, stets etwas Neues zu erfinden oder zu entdecken. Als großes Glück beschreiben die beiden auch mit Mathias Noack einen Theaterregisseur als Professor zu haben. Er lege viel Wert darauf, dass die Botschaft des Stücks stets im Vordergrund stünde. „Wie gesagt: Musical ist viel mehr als man denkt“, rundet Didier ab.

Das Wichtigste ist, dass du deinen Sprech- oder Liedtext verstehst. Das Schwierigste ist in der Endprobenphase, wenn die Szenen schon ausgelutscht sind, die Emotionen noch frisch zu halten. – Tae-Eun Hyun

Wie seid ihr dazu gekommen, Musical zu studieren?

Tae-Eun und Didier beteuern, die drei Musical-Disziplinen Schauspiel, Tanz und Gesang seien ihnen gleich wichtig, beanspruchten gleich viel Zeit und fielen ihnen gleichermaßen einfach oder schwer. Als ich sie frage, wie sie zum Musical gekommen sind, geht es aber viel um Vorsingen, um eine Ballettschule in Lausanne und um Eltern, die klassische Musik studiert haben. Wenn ich nicht nachbohre, höre ich wenig von schauspielerischen Ambitionen und konkreten politischen Gedanken. Ich ertappe mich bei einer voreiligen Schlussfolgerung: „Musical braucht mehr Inhalt!“ Warum erarbeiten die Musical-Studierenden nicht ihre Texte selbst, warum brauchen sie Romeo und Julia, um über Sexualität zu reden und gehen nicht von ihrer eigenen Lebensrealität aus?

Doch als sich der Cappuccino-Milchschaum nach und nach gen Boden der Tasse senkt, wird mir klar, was ich da verlange – was alle da verlangen. Musical-Studierende sind einem enormen Druck ausgesetzt. Obwohl sie belächelt werden, erwarten gleichzeitig alle mehr von ihnen, die Tänzer*innen, die Schauspieler*innen und die Sänger*innen dieser Welt. Das führt schon so weit, dass Tae-Eun und Didier sagen, sie seien weder das eine, noch das andere „so richtig“. Nun hat ein*e Ballett-Tänzer*in aber jeden Tag in der Woche Ballett-Unterricht. Tae-Eun und Didier haben täglich zwei Tanz-Sessions – in denen wird Ballett, Step, Modern, Jazz getanzt. Dazwischen und danach wird gesungen und geschauspielert und nicht zuletzt gibt es theoretischen Unterricht in Theatergeschichte, Gehörbildung und Co. Und ja, auch ihre Woche hat nur sieben Tage à 24 Stunden. Trotzdem machen sie sich Gedanken: „Das Wichtigste ist, dass du deinen Sprech- oder Liedtext verstehst“, sagt Tae-Eun. „Das Schwierigste ist in der Endprobenphase, wenn die Szenen schon ausgelutscht sind, die Emotionen noch frisch zu halten.“

Musical "Lieber tot" UdK
Tae-Eun Hyun und Didier Borel | © Jonas Fischer

Vor dem Treffen mit Tae-Eun und Didier wusste ich nicht, wohin meine Fragen mich führen. Ich war mir nicht sicher, ob Musical überhaupt aktuell und kritisch sein will. Ich dachte, vielleicht haben sich die zwölf Studierenden für l’art pour l’art entschieden. Nur verständlich wäre es in unserer von Konflikten geprägten Realität einfach etwas Schönes schaffen zu wollen, eine Traumwelt, die von Gewalt und Leid fortführt. Jetzt weiß ich: Das Gegenteil ist der Fall. Musical-Studierende sind keine Biedermeier, sondern meistern einen Spagat der Disziplinen, in denen sie alle ihre Erfahrung und Kritik vereinen.

Vielleicht wird das dem Anspruch des Schauspielfans nicht gerecht – denn kein*e Musical-Darsteller*in beschäftigt sich 24 Stunden am Tag mit Schauspielkunst. Doch als Gesamtkunstwerk ist das Musical durchaus zu würdigen. Vereint ein Schauspiel verschiedene Künste – Bühne, Kostüme, Darstellendes Spiel – in einem Stück, vereint das Musical verschiedene Künste sogar in einer Person. Ich werde nie wieder zugeben in ein Musical zu gehen – zumindest nicht, wenn es sich um ein neues Stück junger Menschen handelt. Ich werde es verkünden, herausposaunen und empfehlen. Denn ja, Musical ist eine großartige Show für Menschen mit Hang zum Kitschigen – doch dumm und weltabgewandt müssen sie nicht sein, um die Show zu lieben. Im Fall von Lieber tot dürfen sie das sogar nicht.

Am 30. Juli spielte die Gruppe die Dernière von Lieber tot. Mehr zum Musical auf den Seiten der UdK.

Jonas Fischer
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