Ein Theaterbetrieb, in dem verschiedene Perspektiven gleichberechtigt einen Raum bekommen – darum geht es dem ruhelos.kollektiv in ihrer neuen Veranstaltungsreihe.
Über die Inszenierung eines Buchs von Annie Ernaux haben sich die beiden kennengelernt – und wussten sofort, dass sie ein Kollektiv gründen wollen. Patricia Stövesand und Malin Kraus waren als Regieassistentinnen im Schauspielhaus Hamburg beschäftigt, Stövesand schon einige Jahre, Kraus noch am Anfang ihrer Theaterlaufbahn. Die Themen des Texts fanden sie beide wichtig – Ernaux ist bekannt dafür, in ihren Texten persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Strukturen zu verknüpfen. Gleichzeitig stießen sie sich daran, dass mal wieder ein Text aus einem etablierten Verlag, in diesem Fall Suhrkamp, inszeniert wurde. Sie stellten fest: Der Theaterbetrieb ist nicht bibliodivers.
Der Begriff Bibliodiversität ist sichtlich angelehnt an die Biodiversität, die eine Vielfalt der Arten und Ökosysteme beschreibt, ohne die das Leben unmöglich wäre. Susan Hawthorne, Autorin und Verlegerin, geht in ihrem Buch Bibliodiversität analog dazu davon aus, dass die Verlagswelt nur durch einen vielfältigen, breit aufgestellten Literaturbetrieb mit vielen unabhängigen Verlagen funktionieren kann. Stövesand und Kraus gehen einen Schritt weiter und beziehen dieses Konzept auf die Theaterwelt: „Der Theaterbetrieb ist aktuell mehrheitlich darauf ausgerichtet, Stücken aus konzerngeführten Verlagen und männlichen Autoren eine Bühne zu geben“, sagt Stövesand. Es sei eine Diskrepanz zu spüren zwischen den teilweise schon sehr fortschrittlichen Verlagsprogrammen und dem, was auf deutschen Bühnen inszeniert wird.
Sie waren sich einig, dass dieser Widerspruch thematisiert werden müsse – und gründeten das ruhelos.kollektiv. In ihrem Kollektiv veranstalten die beiden eine vierteilige Reihe in der Lettrétage mit dem Titel: „Von der Seitenbühne – Sprechen über (Um-) Brüche im Literatur- und Theaterbetrieb“. Der Titel der Reihe spielt auf den Bereich neben der Hauptbühne im Theater an, der den Zuschauer*innen unzugänglich bleibt, dem Ort, an dem der meiste Machtmissbrauch stattfinde, wie Kraus bei der ersten Veranstaltung erklärt.
Neben der Diversifizierung der Theaterbetriebe ist es ihnen ein Anliegen, die Arbeitsbedingungen des Betriebs kritisch unter die Lupe zu nehmen, was sich auch in der Themenauswahl für ihre Gesprächsreihe widerspiegelt: Nach dem ersten Abend zu Queerness werden ein Abend zu psychischen Erkrankungen, zur Vereinbarkeit von Kunst und Care-Arbeit und zu Popkultur folgen: „Es sind alles Themen, die unser künstlerisches Arbeiten prägen“, sagt Stövesand: Viele Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten, arbeiten nah an der Burnoutgrenze. Dazu käme die Frage, wer sich in diesem Betrieb überhaupt Kinder leisten könne.
„Die Themen kommen höchstens am Rande als marginalisierte Themen vor, die man nur kurz aufnimmt und dann wieder fallen lässt“, sagt Kraus. In der Gesprächsreihe möchte sie zeigen, dass es sich lohne, weiter über diese Themen zu sprechen. Das gelte auch für popkulturelle Themen und Inszenierungen, die in den Theaterprogrammen unterrepräsentiert seien: „Bestimmte Stoffe werden abgewertet“, sagt Kraus. Die Theater hätten Angst, durch popkulturelle Stoffe das akademische Publikum zu vergraulen. Dabei seien diese Stoffe, wenn sie dann mal inszeniert würden, sehr beliebt, wie zum Beispiel das Stück „It’s Britney, Bitch!“ von Lena Brasch und Sina Martens im Berliner Ensemble, in dem es um Britney Spears geht und das immer sofort ausverkauft sei.
Ihr Kollektiv sehen sie als Gegenpol zum hierarchischen Theaterbetrieb, dem sie eine eigene, solidarischere Form des Arbeitens entgegenstellen wollen. „Im Kollektiv zu arbeiten, bedeutet für uns: miteinander statt gegeneinander arbeiten“, sagt Stövesand. Aber auch wenn die Arbeit im Kollektiv eine angenehme ist, finanzieren lässt sie sich nur durch einen Brotjob, neben dem sie stattfindet. Und das ist anstrengend: „Auch eine Sache, die toll ist, kostet viel Kraft“, sagt Stövesand.
Bei der ersten Veranstaltung zum Thema Queerness sind lynn t musiol, Künstler*in und Autor*in, sowie der Buchblogger Tobias Schiller, der gemeinsam mit Marlon Brand den literarischen Newsletter „Queerer Kanon“ betreibt, zu Gast. Ungefähr vierzig Personen sitzen in dem knallpink beleuchteten Raum, über dem eine Discokugel baumelt. Immer wieder wird das Publikum dazu aufgerufen, sich mit Handzeichen zu beteiligen, etwa zu der Frage: „Wer von euch kennt Édouard Louis nicht?“
Wer sich mit der Verflechtung von Klasse und Queerness in der Literatur beschäftigt, kommt um den französischen Schriftsteller Édouard Louis nicht herum. Er ist bekannt für seine autosoziobiografischen Texte, in denen er, ähnlich wie Annie Ernaux, die Geschichte seiner Herkunft mit soziologischen Reflexionen über den Klassenwechsel verknüpft. Seine Texte wurden bereits mehrfach von deutschen Theatern für die Bühne adaptiert und werden regelmäßig in Berlin und Hamburg inszeniert.
Abgesehen von dem prominenten Beispiel Louis haben es queere Texte auf deutschen Theaterbühnen schwer. Mit seiner erfolgreichen Aufstiegsgeschichte bilde er kaum die Realität der Mehrheit der queeren Menschen ab, sagt Stövesand. Es sei zudem eine Kontinuität, sagt musiol, dass weiße schwule Geschichten überrepräsentiert seien, während lesbische und trans Geschichten weniger erzählt würden.
Diese Geschichten seien zwar wichtig, sagt Schiller. Man gehe damit allerdings kein Risiko ein: „Die Bücher haben sich schon so gut verkauft, dass man weiß, man kriegt den Saal voll“, sagt er. Andere queere Formate blieben daneben unsichtbar.
Vorsichtiger Optimismus
Auch wenn es in den letzten Saisons einige queere Bücher in die Verlagsprogramme geschafft haben – in den Indie-Verlagen schon länger –, spricht Schiller von einem „angehaltenen Optimismus“: Man könne nicht ausschließen, dass es sich dabei nur um eine Welle handle, die wieder abflacht. Mit Kim de l’Horizon als Gewinner*in des Deutschen Buchpreises 2022 habe sich die Branche „etwas getraut“. Was in Deutschland allerdings immer noch fehle, seien Geschichten von nicht-weißen oder auch nicht deutschen queeren Autor*innen.
Tobias Schiller hat einen Stapel queerer Bücher mitgebracht, über die zwischendurch gesprochen wird, darunter McKenzie Warks Reverse Cowgirl, ins Deutsche übersetzt von Johanna David und im August Verlag erschienen. Im Gegensatz zu Édouard Louis behandelt Wark das Thema Sexualität viel expliziter. Dass bei ihm wenig Sexszenen vorkommen, liege an der Angst, ein heterosexuelles Publikum abzustoßen. Diese Angst hält Schiller allerdings für unbegründet: „Man kann den Leuten ruhig mehr zutrauen“.
Ohne Konkurrenzgedanken miteinander ins Gespräch kommen wollen die Veranstalterinnen, was im Theaterbetrieb viel zu selten stattfinde, sagen sie. „Wir wollen mit unserer Reihe einen sicheren Ort bieten, an dem Menschen zusammenkommen und sich austauschen können“, sagt Kraus. Dabei wünschen sie sich einerseits, Literatur- und Theaterschaffende in einen Raum zu bringen, und so den ihrer Meinung nach dringend nötigen Austausch zu erleichtern. Andererseits möchten sie Menschen ansprechen, die wenig mit dem Theater zu tun haben, sich aber für die jeweiligen Themen der Veranstaltungen interessieren. Besonders viel Wert legen die beiden darauf, einen Raum zu schaffen, in dem „prinzipiell alle reden dürfen, und nicht nur diejenigen, die Expertise haben“, sagt Stövesand.
Zum Schluss stellt Stövesand ihren Gästen die Frage, was sie überhaupt in diesem Betrieb hält. „Ich mag gute Geschichten“, sagt lynn t musiol. Literatur und Theater seien ein Weg, sich eine freie Welt zu imaginieren. Aber: So viel Freude man auch im Beruf haben kann, ökonomische Aspekte spielen immer auch eine Rolle. „Die freie Szene muss man sich leisten können“, sagt musiol.
Für Malin Kraus ist die Kompliz*innenschaft im Theaterbetrieb besonders wichtig. „Man arbeitet selten so eng mit anderen Menschen zusammen“, sagt sie. So resümiert auch Stövesand: „Ich habe gemerkt: Es geht nicht allein, es geht nur zusammen“.
Info:
Der zweite Termin der Veranstaltungsreihe „Von der Seitenbühne – Sprechen über (Um-)Brüche im Literatur- und Theaterbetrieb“ findet am 5. Mai im ACUD Kunsthaus um 17 Uhr statt. Als Gäste sind Yvonne Büdenhölzer, Verlagsleiterin von Suhrkamp Theater, und die Autorin Simone Scharbert eingeladen, um mit dem Kollektiv über das Thema psychische Erkrankungen in der Literatur, aber auch innerhalb der Branche zu sprechen.
Mehr Informationen gibt es hier.
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