von Mara Hartung & Victoria Lückemann
Gestern 90-60-90, heute am besten gar kein Gramm mehr auf den Rippen: Die Gesellschaft gibt seit jeher vor, wie Frauen auszusehen haben. Weichen sie vom Ideal ab, sollen sie wenigstens sich selbst lieben. Auf etlichen Ebenen erfahren dadurch mehrgewichtige Personen Diskriminierung. Melodie Michelberger nimmt uns mit auf ihre persönliche Körperreise, die schon im frühen Kindesalter beginnt. Sie erzählt von ihren Kämpfen, ihren Erfolgen und von den Menschen, die sie zu der Person gemacht haben, die sie heute ist. In ihrem Buch Body Politics zeigt sie eindrücklich, dass dicke Körper vor allem eins sind: politisch.
Alles begann mit einem Rüschenrock. Schon als Melodie noch ein Kind war, hatte sie großes Interesse an Mode. Je bunter und plakativer, desto besser. Doch diese Freude wurde ihr früh genommen. „Volants kannst du nicht tragen, dein Hintern ist dafür zu dick“, verkündete ihre Mutter. Ein schicksalhafter Moment, der ihr Leben von nun an auf den Kopf stellen sollte. Im Teenageralter verbrachte sie dann ihre Freizeit mit Kalorienzählen, Gewichtstabellen und dem Ausprobieren immer neuer Diäten. Auf extreme Diäten und unablässigen Sport folgten Magersucht und der nicht endende Hass auf den eigenen Körper.
In ihrer Zeit als Moderedakteurin und -assistentin konnte Melodie Michelberger zwar ihrer Leidenschaft, der Mode, nachgehen, doch musste sie schnell die Grenzen der Fashion-Welt erfahren: Mode ist nur sehr dünnen Menschen vorbehalten. Die Industrie führt keinen Diskurs über große Körper, sie sind nicht präsent. Die Samples, die von den Designer:innen zu den Shootings geliefert wurden, alle Size Zero. Passte ein Model nicht hinein, wurde es nach Hause geschickt.
Für Melodie Michelberger ein Grund, ihren Körper immer groß und dick zu finden. Salate, fettarmer Joghurt, Abnehm-Tees und Diät-Pillen nahmen den Platz von gesundem und leckerem Essen ein. Heute ist ihr klar, wer eigentlich von dieser Tortur profitierte.
„Die Diätindustrie macht in Europa geschätzt 100 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Den macht sie, weil wir überzeugt sind, dass wir fehlerhaft sind. Das Schönheitsideal soll dabei möglichst unerreichbar sein, denn das konstante Empfinden von vermeintlichen Makeln ergibt einen konstanten Bedarf nach helfenden Produkten.“
„Auf einmal ging es nicht mehr um kreativen Ausdruck, sondern ‚Bekleidung'“
In ihrem Buch hält Michelberger die Lupe auf Gewichtsdiskriminierung im Alltag. Seien es die Modegeschäfte, in der die Kleidung für Mehrgewichtige – wenn es diese Kleidung denn überhaupt gibt – nur in separaten Abteilungen hängt, an viel zu klein geratenen Bügeln und in besonders tristen Farben. Designer:innenmode endet in der Regel bei Konfektionsgröße 48. Hinzu kommen schmale Sitze in Flugzeugen, Bahnen oder öffentlichen Gebäuden – was dünnen Menschen nicht einmal auffällt, ist für dicke Personen immer wieder aufs Neue ein Schlag ins Gesicht. Es bedeutet nur begrenzte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ist mit alltäglicher Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden.
„Das war sie also, Funktionskleidung in Reinform. Mehr, als die Funktion einer Schneehose zu erfüllen, tat sie nicht. […] Sollte ich mich jetzt etwa freuen, dass hier endlich zusammengenähter Stoff hing, der mir zumindest passte? Oder war das eher ein ‚Fuck you and your dreams‘? […] Ein sinnbildliches Nee! an mein Bedürfnis nach hochwertiger und farbenfroher, also einfach phantastischer Garderobe.“
„Du kannst einer Person nicht ansehen, ob sie gesund ist.“
Grundsätzlich werden dicke Menschen als undiszipliniert, faul und tendenziell ungesund gesehen. Besonders gefährlich wird es dann, wenn sie zu ihrer Ärztin gehen und alle Beschwerden mit einem stumpfen Verweis auf Übergewicht abgefertigt werden: „Naja, kein Wunder, Ihr BMI liegt bei 32 – Sie haben also starkes Übergewicht. Ein paar Kilo weniger würden Ihnen nicht schaden.“ Aussagen, denen Melodie Michelberger mittlerweile entschieden entgegentritt. Doch ihr Weg hierhin war keinesfalls leicht.
Aus dem Burnout und der Depression, in welche sie durch toxische Beziehungen, kräftezehrenden Jobs und vor allem ihren ständigen Körperhass getrieben wurde, kletterte sie Schritt für Schritt mithilfe einer wachsenden Erkenntnis heraus: Ihre Geschichte ist keine individuelle. Das, was sie erlebt, erleben unzählige andere Personen auch. Fettfeindlichkeit ist eine strukturelle Gewalt, die sich durch unseren Lebensstil zieht, durch unsere Politik, durch unsere Gesellschaft. Dicke Körper sind politisch! Aus diesem Grund wählte Melodie Michelberger ihren Buchtitel: Body Politics.
Noch viel Luft nach oben
Bisher wurden Fettphobie und toxische Schönheitsideale in der deutschsprachigen Literatur eher stiefmütterlich behandelt. Wenn man sich Veröffentlichungen zu der Thematik anschaut, fällt vor allem eins auf: sie stammen fast ausschließlich von weißen, als schlank gelesenen Akademiker:innen. So zum Beispiel von dem promovierten Soziologen Friedrich Schrob, der in seinem Buch Dick, doof und arm? die Stigmatisierung von dicken_fetten Menschen kritisiert und aufzeigt, wie die Diätindustrie davon profitiert. Im Jahr 2014 erschien Dicksein – Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt der Soziologieprofessorin Eva Barlösius, die sich der Diskriminierung dicker_fetter Jugendlicher und ihren Folgen widmet. Im April diesen Jahres erscheint Elisabeth Lechners Riot, don’t diet!, das sich auf intersektionaler Ebene mit Körperdiskriminierung auseinandersetzt. Elisabeth Lechner ist eine schlank gelesene, weiße Kulturwissenschaftlerin.
Populäre Sachbücher, die wie Body Politics auf persönlichen Diskriminierungserfahrungen basieren und Akzeptanz für große Körper fordern, gibt es nur vereinzelt und erst seit kurzer Zeit. So hat Magda Albrecht in ihrem 2018 erschienen Buch Fa(t)shionista – Rund und glücklich durchs Leben ihre Erfahrungen geteilt. Im selben Jahr hat die ehemalige GNTM-Kandidatin Sarina Nowak ihre Autobiografie Curvy über ihren Weg vom Size Zero Model zum angesagten Curvy Model veröffentlicht. Auch sie beschreibt auf sehr persönliche Art ihren eigenen Weg zu einem neuen Körpergefühl. Doch der Titel sagt viel aus: Curvy eben, nicht dick.
Wer darf überhaupt sprechen?
So wichtig diese Bücher sind, sie zeigen leider auch, wem noch immer die Deutungshoheit zugesprochen wird. Die Autor:innen sind allesamt weiß und gelten als schlank oder acceptable fat, besitzen Körpergrößen, die gerade noch gesellschaftlich toleriert werden.
Auch Body Politics fällt in diese Kategorie. Deshalb geht Melodie Michelberger in ihrem Debüt sehr detailliert auf die Frage ein, wer sprechen darf und wer nicht. In einem dreiteiligen Interview gibt sie den Aktivistinnen Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum, BodyMary und SchwarzRund eine Stimme, die sowohl für ihr Dicksein als auch ihr Schwarzsein, manche auch für ihre Geschlechtsidentität, eine mehrdimensionale Diskriminierung erfahren.
In diesem Zuge kritisiert Michelberger die Aneignung des Begriffs Body Positivity durch weiße, als schlank gelesene Personen. Die Bewegung enstand ehemals aus der US-amerikanischen fat liberation und kämpft gegen die Diskriminierung von mehrgewichtigen Personen und für deren Rechte. Sie ist politisch, schafft einen Raum für Marginalisierte. Mittlerweile sei Body Positivity zum Modebegriff mutiert, der Terminus verwässere zunehmend und werde auch von jenen genutzt, die nicht von Körperdiskriminierung betroffen sind, prangert die Autorin an.
Intersektionaler Fettaktivismus
Es gibt sie also, die diversen, intersektionalen, mehrfach diskriminierten Betroffenen. Das zeigen uns bereits die Interviews, die Melodie Michelberger in ihr Buch integriert. Es gibt diese Stimmen, wir lassen sie bisher schlicht nicht zu Wort kommen. Umso wichtiger, dass die Fettaktivistin BodyMary als Moderatorin zur Buchpremiere eingeladen wurde. Angeregt diskutierten Autorin und Moderatorin über ihre persönlichen Erfahrungen, tauschten sich im öffentlichen Raum aus. Es wurde sichtbar, wie ähnlich und gleichzeitig verschieden ihre Erfahrungen sind.
Eine Szene ist besonders im Kopf geblieben. Das Gespräch drehte sich um jenen Moment des Aufwachens, in dem uns bewusst wird, dass der Schönheitswahn kein Ende nimmt. Dass wir wie Hamster in Rädern einem Ziel hinterher rennen, das wir nicht erreichen können – schlanker geht immer. BodyMarys Erfahrung geht weit darüber hinaus, beschränkt sich nicht nur auf ihr Gewicht. Sie erzählt davon, wie ihr klar wurde, dass sie selbst als schlank gelesene Person niemals dem weißen, blonden Schönheitsideal entsprechen werde. Es gebe Dinge, die sich nicht weg hungern ließen, wie Schwarze Haut und Haare.
An diesem Punkt kommt die Intersektionalität ins Spiel, auch andere Schwarze Fettaktivistinnen sind davon betroffen. Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum bringt es in ihrem Interview auf den Punkt:
„Ich kann nicht unterscheiden, ob etwas rassistisch ist oder fettfeindlich. Das geht immer zusammen. Diese intersektionale Ebene ist mir wichtig. Themen, die mich und andere Schwarze Körper betreffen, bekommen eine andere Aufmerksamkeit als jene, die weiße Körper betreffen. Oft passiert das sehr viel später, manchmal gar nicht.“
Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum
„Wieso sollte ich ein Buch schreiben, wenn ich nicht alles wüsste?“
Melodie Michelberger vertraut ihren Leser:innen also nicht nur ihre Geschichte an, sie gibt ihnen konkretes Hintergrundwissen an die Hand. Auf über zehn Seiten stellt sie ihre Vorbilder und Vorfahren vor, dank derer sie es schaffte, sich von ihrer Fettphobie zu befreien und ihre Selbstakzeptanz zu stärken. Sie gibt einen kurzen Abriss über die Herkunft des Fettaktivismus, empfiehlt Bücher, Instagram-Accounts, Musikvideos und vieles mehr, um den eigenen Blick zu schulen.
Mit ihrer lockeren, persönlichen Sprache fühlen wir uns der Autorin ab der ersten Seite verbunden. Wir fiebern mit, stöhnen auf, sind erschöpft, wenn sie es ist. Und wir fühlen uns ertappt. Zum Beispiel beim Thema Diät-Small-Talk à la „Du hast aber abgenommen, siehst toll aus!“ oder „Ich habe heute wieder gesündigt“, den wohl jede:r zu gut kennt.
Body Politics stellt eine unglaublich wichtige und vernachlässigte Forderung: Gleiche Rechte für alle Körperformen. Melodie Michelberger gibt dieser Forderung ihr Gesicht und ihre Stimme, aber gleichzeitig ganz viele Stimmen und Gesichter. Die Autorin wird nicht müde, ihre privilegierte Position zu betonen, die Perspektiven Schwarzer Aktivistinnen bereichern das Buch.
Schön wäre es dennoch gewesen, manche Argumentationen noch selbstbewusster auszuführen und kleine Momente der Rechtfertigung in Buch und Lesung ganz auszuräumen. Denn auch wenn die Autorin in ihrer Rolle privilegierter ist als andere, macht das ihr individuelles Gefühl und ihre Erfahrung nicht illegitim. Jede Geschichte verdient es, ausgesprochen und gehört zu werden. Dafür muss man gar nicht alles wissen.
Melodie Michelberger: Body Politics, Rowohlt Polaris, 2021.
- Der Sommer ist noch nicht vorbei: Bücher für den Seetag - 12. August 2024
- „Taylor Swift geht nicht ohne Swifties“ - 17. Juli 2024
- Blitzinterview mit Paula Fürstenberg - 11. Juli 2024