Nun ist Helene Hegemann also nominiert, mit ihrem Roman „Axolotl Roadkill“, in der Kategorie „Belletristik“ des Preises der Leipziger Buchmesse. Und die Diskussion um Remixen & Abschreiben, Untergrund und Hype, Originalität & Echtheit will einfach nicht enden. Da geht es um einen Verlag, der versagt hat, um ein Feuilleton, das versagt hat, um eine Jury, die versagt hat. Aber eigentlich geht es auch ums Internet und seine „Kultur“. Wer blickt da noch durch?
Also: Rewind. Noch mal von vorne.
Ein Münchner Blogger erhebt Plagiatsvorwürfe gegenüber der 17-jährigen Debütantin Helene Hegemann, das gefeierte Wunderkind des deutschen Feuilletons: Hegemann habe aus dem Buch „Strobo“ des SuKuLTur-Autors Airen abgeschrieben. Bereits 48 Stunden später gibt es eine Stellungnahme: Ja, sagt die Autorin, sie habe abgeschrieben, aber Originalität gebe es nicht, nur Echtheit. Ui, sagt der Verlag, die Autorin habe das nie erwähnt, aber man werden die Rechte noch nachträglich einholen.
Der Fall Hegemann wird nun unter drei Aspekten verhandelt:
1. Juristisch: Rein rechtlich gesehen hätte Hegemann in jedem Fall ihre Quellen nennen müssen, nur Hegemann definiert die Quellenangabe als ein „ästhetisches Problem“.
2. Moralisch: Mit fremden Federn schmückt man sich nicht, schon gar nicht auf Kosten eines unbekannten Untergrundautors. Hegemann sagt: Sorry.
3. Literaturtheoretisch: Was ist ein Plagiat? Wie kann Literatur überhaupt neu sein, wenn sie auf Sprache beruht, die immer schon vorgeprägt ist? Eigentlich ein ganz alter Hut, wenn Hegemann nicht explizit das Internet ins Spiel gebracht hätte. Und da wird es spannend. Hegemann behauptet dreist: „Wenn da die komplette Zeit über reininterpretiert wird, dass das, was ich geschrieben habe, ein Stellvertreterroman für die Nullerjahre ist, muss auch anerkannt werden, dass der Entstehungsprozess mit diesem Jahrzehnt und den Vorgehensweisen dieses Jahrzehnts zu tun hat, also mit der Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation.“
Das Feuilleton steht nun vor einem Problem: Die vielbeschworene Authentizität von Hegemanns Sprache ist durch die Plagiatsvorwürfe fragwürdig geworden. Die Kritik nimmt also den Fleischbrocken, den Hegemann ihr zugeworfen hat, und philosophiert über „webbasierte Intertextualität“, über „Sampling“, „Remix“ und „Mashup“. „Ein Feuerwerk an begrifflichen Nebelkerzen„, sagt der Wissenschaftsblogger Anatol Stefanowitsch und erklärt, warum Hegemanns Verfahren mit der Sharing-Kultur des Internets nichts zu tun hat: Im Netz sei es eine große Selbstverständlichkeit, Quellen zu nennen, auch diejenigen, die nicht der „Creative-Commons“-Idee folgen, würden sich zu großen Teilen an diesen Kodex halten. Auch der Literaturwissenschaftler Philipp Theison hält Hegemanns Verweis auf die Internetkultur für zweifelhaft, da auch im Internet selbstverständlich das Urheberrecht Bestand habe, ein Recht zum Kopieren gebe es nicht.
Die Literaturkritik muss sich also nicht nur vorwerfen lassen, dass sie sich bei ihrem Urteil über „Axolotol Roadkill“ zu sehr von außerliterarischen Kritierien hat leiten lassen, sondern auch, dass sie vom Internet keine Ahnung habe und den Roman mit falschen Argumenten verteidige. Genau jene gescholtene Zunft vergibt am 18. März den Preis der Leipziger Buchmesse, für den Helene Hegemann neben Jan Faktor, Georg Klein, Lutz Seiler und Anne Weber nominiert ist.
Kurz vor der Bekanntgabe der Nominierung wurde gefordert, „Axolotl Roadkill“ vom Preis auszuschließen. Eine heikle Angelegenheit: Hätte die Jury Hegemanns Nominierung zurückgezogen, wäre dies einem Schuldeingeständnis gleichgekommen. Die Vorsitzende der Jury, Verena Auffermann nennt Hegemann eine extrem begabte junge Frau und weist darauf hin, dass es ja auch wichtig sei, dass das Debüt der 17-Jährigen eine Diskussion ums Urheberrecht „in Zeiten der Zirkulation im Netz“ angestoßen habe. Die Jury fände es „ausgezeichnet“, „dass in diesem ganzen Chaos“ (sie spricht von der Kultur der Weblogs und Sozialen Netzwerken, die „sozusagen unterirdisch stattfindet“) „jetzt mal eine Zäsur gesetzt wird“.
Da ist es wieder, dieses Internet. Und das werden wir wohl auch so schnell nicht wieder los.
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Fassen wir also noch einmal zusammen: Literaturkritiker, die sich um ihr Wunderkind betrogen fühlen und dashalb vom Intertextualitätsprinzip des Internet-Zeitalters schwadronieren- ohne sich grundlegend literaturtheoretisch mit Intertextualität befasst zu haben. Eine Autorin, die sich mit genau diesem Argument des Remixen von Texten auf das Recht zum copy-and-paste beruft -- ohne dabei zu beachten, dass paradoxerweise gerade die, die mit der vielzitierten Sharing-Kultur großgeworden sind, extrem sensibilisiert sind für Urheberrechtsfragen. Ein Verlag, für den die Wahrung des Urheberrechts an erster Stelle steht -- der es aber verabsäumt hat, ein paar Kleinigkeiten zu googlen (wenngleich es natürlich nicht prinzipiell die Aufgabe eines Lektors sein kann, jeden Satz auf ein mögliches Plagiat hin zu untersuchen). Eine Jury, die ihre Entscheidung lange vor der ganzen Aufregung gefällt haben will -- und die jetzt irgendwie zwischen den Stühlen sitzt. Hat der Literaturbetrieb also auf ganzer Linie versagt?
Vielleicht. Aber das wäre jetzt sehr kulturpessimistisch. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass es hier nicht zuletzt ums Geldverdienen geht. Mit dem Buch allein hätten eine Menge Leute eine Menge Geld verdient. Mit dem Skandal um Axolotl Roadkill verdienen noch mehr Leute noch viel mehr Geld (so wird wenige Wochen nach Erscheinen schon die dritte Auflage gedruckt). Auch wenn ich in keinster Weise unterstellen will, das Ganze sei reine Inszenierung, ist die Versuchung doch groß, von „Marketingliteratur“ zu sprechen (keinesfalls gleichzusetzen mit „Massenliteratur“!). Aber auch das wäre sehr kulturpessimistisch. Und zu einfach obendrein.
Ein Buch, von dessen Lektüre ich schon vor der „Ist korrektes Zitieren noch notwendig oder Copy-Paste schon längst beherrschende Kulturtechnik“-Debatte durch den Hype der Kritik abgeschreckt wurde. Ein Abwehrmechanismus, der bei mir einsetzt, sobald die Diskussion um einen Titel die Feuilletons beherrscht. Sei es Vampirroman oder Großstadtdrogenodyssee.
Nur um nicht mitreden zu können, verweigere ich mich aus dem Trotz dem „Hast du schon gelesen“ Druck und quittiere Nachfragen mit einem besserwisserischen „Warum törnt der Drogensumpf einer 17-jährigen die deutsche Literaturkritik eigentlich so an? Meinen diese Schreibtischtäter jenseits der 40 mal wieder, die Lebenswelt der deutschen Jugend zwischen zwei Buchdeckeln auf den Markt gebracht zu haben?“
Was dann wirklich am neuen Wunderwerk dran ist, werde ich dann wohl nie erfahren. Es sei denn, ich nehme das Buch erst zur Hand, wenn es schon in den Regalen meiner belesenen Freunde zu verstauben droht. So habe ich es gemacht mit dem Skandalwerk des vorletzten Jahres, „Feuchtgebiete“. Als schon jeder einen Meinung hatte, war ich froh, mir letztendlich doch eine bilden zu können!
Die späten Freuden des antizyklischen Lesens? Kann man jetzt, nach so viel „drüber lesen“ ein Buch überhaupt noch frisch, sozusagen unbefleckt, lesen?
Oder greife ich gleich auf vergessene Klassiker zurück und versperre ich mich dem Trend? Ziehe mich in meine „unbefleckte“ Lesewelt zurück, denn wer erinnert sich heute noch an die Diskurse über Klassiker?
So macht es zum Beispiel Harald Martenstein, der sich heute in seiner Tagesspiegel-Kolumne an der Hegemann-Debatte sich zwar erfreut, sich dem Neuwerk trotzdem verweigert und lieber Kempowski liest. Ich für meinen Teil vergnüge mich gerade mit Capote. Antizyklisches Lesen, eine kleine Rebellion?
Mal ehrlich: So sehr der Hype um ein Buch auch vor der Lektüre abschrecken mag, so sehr weckt er auch eine gewisse Neugier. Du schreibst, dass du froh warst, dir letzendlich doch noch eine Meinung zu „Feuchtgebiete“ bilden zu können. Ich vermute, das ist der springende Punkt. Am Ende interessiert es uns doch in gewisser Weise, ob die Meinungsführer der Diskussionen Recht hatten oder nicht. Gegen antizyklisches Lesen ist im Übrigen überhaupt nichts einzuwenden, viel Spaß mit Capote!
Ich kann Carolins Haltung sehr gut verstehen. Zum Beispiel habe ich Goethes „Werther“ auch erst 220 Jahre nach großen Hype darum gelesen…
Nein, in der Tat, mich schrecken solche Projekte ab. Manchmal mit Sicherheit so sehr, dass mir wirklich etwas entgehen mag. Aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und schon gar nicht macht mich (nicht selten künstlich und mit Verkaufsabsichten hergestellter) Medienrummel heiß. Goethe ist eh besser…
@Carolin: Ein Pamphlet zum antizyklischen Lesen -- der sich an der Marketing-Literatur abarbeitet -- und einen originellen Weg durch die Hypes der letzten Jahre (@Dennis, gar Jahrzehnte!) bahnt, würde ich gerne lesen!
Oh, das würde ich auch gern lesen!
Mal sehen, vielleicht gelingt es mir ja in den nächsten Tagen auch, was zu schreiben…
Übrigens hat Airen sich nun doch zu Wort gemeldet, in der FAZ: http://www.faz.net/s/RubD3A1C56FC2F14794AA21336F72054101/Doc~E88A9CA72ADE445F390437D064F10C598~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Ist es denn verwunderlich, dass Hegemann von den Printleuten verteidigt wird?! Ich traue den Kritikern eigentlich schon zu, dass sie ihre ursprüngliche Meinung revidieren würden -letztlich würde man sich aber im ein oder anderen Verlagshaus doch ins eigene Fleisch schneiden, so frei wie man sich selbst an Texten aus dem Internet bedient; seien es Gutenbergs Vornamen von Wikipedia oder Amoklauf-„Quellen“ von Twitter. „Laut Medien“ steht mir mittlerweile wirklich zu oft in der Zeitung…
Die Diskussion um Hegemann hat leider nie wirklich auf einer sachlichen Ebene stattgefunden, und jetzt geht es nur noch um alte vs. neue Medien, und darum, seinen Status zu legitimieren.
Und wer spricht über Literatur?!
Iris Radisch jedenfalls nicht. Sie nutzt die Hegemann-Diskussion in der aktuellen ZEIT dazu, um sich erst einmal über ihre männlichen Kritiker-Kollegen auszulassen und um eine ganze Gender-Debatte anzuregen. Interessanter Ansatz, um sich in dieser Diskussion zu positionieren…