Nachdem in unserer Vorstellungsreihe die Krimibuchhandlung „Hammett“ an der Marheineke Markthalle den Anfang gemacht hat, gehen wir nun einige Straßen weiter in die Riemannstraße. Hier pflegt das englischsprachige Antiquariat „Another Country“ Gelassenheit und literarischen Kulturaustausch.
Thomas Pynchon würde diesen Ort lieben, denke ich und stolpere in den Laden. Die Treppenstufen zum Eingang hinauf sind glatt. Vielleicht war ich aber auch nur zu befangen von dem Sog der Buchhandlung. Ich betrete den Eingangsraum mit seinem gefliesten Boden und den vollgestellten Holzregalen und weiß, dass es hier um gelebte Literatur geht, nicht um das Verkaufen von Büchern.
Überall heftet sich der Blick an Details: eine leere Tasse, ein angefangenes Stück Kuchen, ein Ölportrait von Samuel Beckett, unzählige, nicht ganz geleerte Gläser. Hinter all dem scheint sich eine eigene Geschichte zu verstecken. Als geheimer Zufluchtsort für kleinwüchsige Zirkusdirektoren, als Unterschlupf für zwangskonditionierte Soldaten und Testamentsvollstreckerinnen würde diese Buchhandlung wirklich bestens in das Pynchon-Universum passen.
„Another Country“ ist dann auch weit mehr als ein englisches Antiquariat. Man befindet sich vielmehr an einem fantastischen Ort, wo so ziemlich alles passieren könnte. Seit ich das letzte Mal vor einigen Monaten hier war, hat sich nicht viel verändert. Noch immer ist eine begonnene Schachpartie auf dem Tisch vor dem Schaufenster ausgebreitet. Noch immer meine ich, einen etwas süßlichen Geruch im Laden zu bemerken. Neben einer Teeküche türmen sich gebrauchte Teller und Bierkästen. Es sieht aus, als hätte man eine gute Feier verpasst; etwas verbraucht, aber gemütlich. Zwangsläufig habe ich plötzlich sebst das Gefühl, eine lange Nacht hinter mir zu haben und nun in einer fremden Wohnung zu mir zu kommen. Hinter der Kasse grüßt mich ein Teil des Gastgeberpärchens, versunken vor dem Computer. Ein Ort, an dem Zeit und Raum keine Wirkung zu haben scheinen. Ein perfekter Ort für Literatur.
Buchhandlung, Bücherei, Buchclub
Im Hauptraum kreisen – in den Regalen nach Autorennamen alphabetisch sortiert – die Bücher den Besucher ein. Dabei ist das Besondere, dass sich „Another Country“ zugleich als Bücherei, antiquarische Buchhandlung und Buchclub versteht. So kann man sich bei einer Vielzahl der Bücher entscheiden, ob man sie kauft und behält oder wieder zurückbringt. In diesem Fall erhält man den bezahlten Preis wieder, abzüglich einer Aufwandsentschädigung von 1,50 Euro. Der Zettel, auf dem dieses Prinzip erklärt wird, hängt zwischen den beiden Räumen neben einem summenden Kühlschrank und ist etwas zerfleddert, fügt sich also bestens in das Umfeld ein.
Das Sortiment reicht von Klassikern über Geschichtsbücher bis hin zu Lyrik. Es gibt Kategorien wie crime, true crime, historical detectives und science fiction ebenso wie children books, parental und criticism. Den Großteil macht dabei aber fiction A – Z aus. Dass die Bücher teilweise schon sehr abgegriffen und einige Abteilungen etwas dünn bestückt sind, fällt angesichts der skurrilen Sympathie, die der Laden ausstrahlt, nicht ins Gewicht.
Jede Woche gibt es eine englische Filmnacht (Dienstag) und ein offenes Dinner (Freitag, Essen ab 21 Uhr). Menschen kommen nicht hierher, weil sie nur ein Buch suchen, sondern weil der Laden ein englischsprachiges Literatur- und Kulturzentrum ist. Das erzählt mir Sophie, die hinter dem Tresen in der Mitte des Raumes sitzt und nun langsam vom Computer aufschaut.
Seit zwölf Jahren gibt es den Laden schon, der zunächst auf eigenen Büchern basierte, dann aber schnell von vielen Liebhabern unterstützt wurde. „Man sollte am besten mal abends vorbei kommen, zu den Veranstaltungen“, sagt Sophie, „da sind dann auch mehr Leute hier.“ Ich schaue mich im Laden um. Außer mir sind nur zwei Amerikanerinnen da, die aber scheinbar hier arbeiten. Neben Sophie gibt es noch Alan Raphaeline, der „Another Country“ gegründet hat und auch führt. Alan ist heute leider nicht da. Ein sehr schönes Interview über ihn und die Entstehung des Ladens kann man aber hier lesen.
Literaturtreff und literarischer Ort
Als ich in den Keller gehe, bemerke ich das Ausmaß, das so ein Buchclub annehmen kann. Eine riesige Science Fiction-Abteilung füllt das Untergeschoss. Zwischen den Büchern befinden sich Tische, Stühle und eine gesamte Kücheneinrichtung. Man kann sich die Freitagabende sehr gut vorstellen, den Geruch, die Stimmen, Gespräche über Literatur und Berlin. Jeder kommt aus einem anderen Land, alle treffen sie sich in dieser Buchhandlung, in der Riemannstraße, nicht weit entfernt von der touristisch durchgestylten Bergmannstraße – und doch ganz anders.
So verwundert es mich dann auch nicht, dass „Another Country“ unlängst von der BBC in die Liste der zehn besten Buchläden der Welt aufgenommen wurde. Dabei ist es vor allem der einmalige Charme, der in Erinnerung bleibt. Wer also nach gebrauchten englischsprachigen Büchern sucht oder wissen will, warum Daniel Kehlmann recht hat, wenn er sagt, dass sich nur die Wirklichkeit leisten kann, sehr unwahrscheinlich zu sein, sollte „Another Country“ in der Riemannstraße besuchen.
Diesen Ort würde man in keiner Fiktion für glaubhaft halten, denke ich und stolpere wieder aus dem Laden. Dabei fällt mir noch einmal Thomas Pynchon ein, „every weirdo in the world is on my wavelength“. Die Treppenstufen sind nicht nur glatt, sondern auch sehr hoch, aber Sophie ruft noch leise „be careful“ und „a good reading“ hinter mir her. Dann fällt die Tür zu und ich auf den harten Boden.
Another Country
Riemannstraße 7, 10961 Berlin
U7 Gneisenaustraße
Foto: eigenes Bild
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