Lola, die Protagonistin in Mirna Funks Roman Winternähe, hat genug von hirntoten Berlinern, die mit ihren Sneakers wie Zombies durch die Gegend gleiten. In den Augen der jungen Fotografin wurde die Geschichte der Juden in Deutschland plattgeredet und glattgebügelt. Festen Boden mit rauen Kanten zum Festhalten sieht sie hingegen in Israel. Wo das Leben noch nicht aus den Körpern der Menschen gesaugt wurde. Im Fokus des Debüts der ZEIT-Journalistin steht die Reise einer modernen Frau, die sich permanent dazu gedrängt sieht, ihre jüdisch-deutsche Identität vor sich und ihrem Umfeld zu rechtfertigen.
Es sollte eine eigene Bezeichnung für Romane geben, in denen junge Frauen ihren Alltag in der deutschen Großstadt gegen ein neues Leben in Tel Aviv eintauschen. Bereits 2012 beschloss unter anderem Olga Grjasnowa ihren Debütroman, Der Russe ist einer, der Birken liebt, eben diesem Thema zu widmen. Tel Aviv: die Stadt, die boomt. In der israelischen Hauptstadt hat sich eine Kunst- und Partyszene entwickelt, die viele junge Leute anlockt. Das allein ist für die hippe Fotografin Lola in Funks Roman jedoch kein Grund zur Ausreise. Was sie in Tel Aviv geboten bekommt, ist der echte Boom.
Der Boom stand für den Angriff und für das Ausgeliefert sein. Für die enorme Sicherheit, die der Iron Dome bot. Wenn sie an das Wort Boom dachte, sah Lola einen Comic vor sich und Superhelden, die mit total abgefahrenen Waffen gegen einen Feind kämpften, und wenn sie diesen Feind tödlich trafen, dann entstand eben ein Boom.
2014 herrschen in Tel Aviv Ausnahmezustand und Normalität zugleich. Während sich über den Köpfen der Menschen ein Krieg abspielt, bleiben Lola und viele andere am Strand liegen. „Jetzt machen sie wieder Gaza platt“, hatte sie nur gedacht und ihren IPod wieder laut gestellt, um FKA Twigs zu hören, was sie seit einer Woche ausschließlich tat.
Kann der Alltag im Angesicht des Todes dabei helfen, eine persönliche Krise zu bewältigen?
In Berlin spielte sich Lolas Alltag vor allem im Internet ab. Fotografien verkaufte sie auf Instagram, Männer lernte sie auf tinder kennen und bevor sie jemanden näher an sich heranließ, erkundete sie seine Wohnung auf airbnb. In Tel Aviv überkommt Lola nach ihrer Ankunft, ähnlich wie Grjasnowas Romanfigur Mascha, zunächst eine soziale Phobie. Wie gelähmt bleibt sie Tage lang im Bett liegen, ohne mit irgendjemandem digital oder real zu kommunizieren. Es ist, als müsse sie zuerst einen Virus auskurieren, den sie sich in Deutschland eingefangen hat, bevor sie wieder neue Menschen in ihr Leben lässt. In Momenten, in denen Lola sich zurückzieht, übernimmt eine personal erzählende Instanz geduldig die Beobachtungen und Gedanken der Protagonistin. Wenn diese wieder zu Kräften kommt, wird ihr ein großes Feld für den Dialog überlassen, in dem Lolas eigene Stimme deutlich wird. Verglichen mit den erzählten Passagen, erscheint sie im direkten Gespräch noch impulsiver und auf eine kindliche Weise trotzig, wenn sie ihr jeweiliges Gegenüber mit Fragen und Einsprüchen zum Thema Israel-Palästina und dem heutigen Judentum bombardiert, sei es ihr Liebhaber, ein Bekannter oder ihr Sitznachbar im Flugzeug. In ihrer Direktheit und dem Drang zur Provokation teilt sie ebenfalls Charaktereigenschaften mit Grjasnowas Mascha Kogan. Genau wie diese, ist Lola es Leid, sich von anderen ihre Identität vorschreiben zu lassen. Während Mascha sich vehement gegen Bezeichnungen wie postmigrantisch oder Migrationshintergrund wehrt, machen Lola die antisemitischen Angriffe auf ihre Persönlichkeit zu schaffen.
Antisemitismus im Jahr 2014?!
Nie wieder Antisemitismus haben die Deutschen siebzig Jahre gelernt. Und weil es keinen Antisemitismus geben darf, gibt es auch keinen.
Mit einem bitteren Lächeln führt Lola sich ihre Gegenposition vor Augen. Die Position der Deutschen – wer auch immer damit gemeint ist. Es ist möglich, sich beim Lesen selbst in einem Dialog mit der wütenden Protagonistin zu sehen, die ordentlich austeilt, wenn es um die Suche nach Schuldigen und Opfern geht. Was aber, wenn etwas dran ist an ihren Vorwürfen. Die Frage, die sich stellt, wenn man sich erst einmal auf die Diskussion einlässt, lautet: Wo fängt Antisemitismus eigentlich an und hat er überhaupt einmal aufgehört? Lolas „Freunde“ verzieren ihr Foto mit einem Hitlerbart und teilen es anschließend auf Instagram. Lolas „Freundin“ bemerkt bei einem Dinner, dass ihre Beine sich hervorragend eignen, um daraus zwei Stehlampen zu basteln. Man möchte nicht glauben, was man liest. Da es ein fiktiver Roman ist, muss man das auch nicht.
Man sollte es aber dennoch tun. Bereits im vergangenen Winter schreibt Mirna Funk auf ZEIT online darüber, dass der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei und sie sich, aufgrund solcher Vorfälle, wie jenen, die sie in ihrem Roman beschreibt, für einen Umzug nach Israel entscheidet. So wie die Menschen im Umfeld ihrer Romanfigur, können viele Bekannte der Autorin nicht nachvollziehen, wieso sie sich für ein gefährliches Leben in Tel Aviv und gegen ein „Sahnepudding-Berghain-Leben“ in Berlin entscheidet. Wo doch so viele Israelis nach Berlin wollen.
Ich verstehe natürlich auch, dass die Israelis vor dieser existenziellen Bedrohung fliehen wollen, aber sie tun das, indem sie in ein Land gehen, das überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass das jüdische Volk auf einem Flecken Erde leben muss, wo es tagtäglich existenziell bedroht wird.
Die Entscheidung für das gefährlichere Leben fällt ihr nicht schwer, da die existenzielle Bedrohung für sie eben auch Leben bedeutet. Ihre Protagonistin teilt diese Einstellung. Von Berlin auskuriert, verspürt Lola in Tel Aviv ein Gefühl angenehmer Distanz trotz tiefer Verankerung. Eine Zeit lang fühlt sie sich zugehörig und angekommen. Aber nur eine Zeit lang. Denn (auch diese Erfahrung musste bereits Mascha Kogan machen): Vor der eigenen Vergangenheit kann man nicht davon laufen.
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Für unser Weihnachtsgewinnspiel gelten die folgenden AGBs.
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