Von verschwitzten Sommernächten in fremden Betten, von queeren Utopien und vom ständigen Verliebtsein erzählt Darja Keller in ihrem Debüt Sihl City.
Es sind alltägliche, flüchtige Szenen, die Darja Keller in ihren Erzählungen beschreibt. Mal wacht die Erzählerin morgens bei einer ihrer Liebhaberinnen auf, mal fährt sie nachts mit dem Fahrrad durch die Stadt, mal läuft sie nach einem unbefriedigenden One-Night-Stand mit einem nichtssagenden Mann zufällig ihrer Exfreundin über den Weg. Als Leser*in macht man einen sommerlichen Abstecher in ein junges, queeres Zürich.
Das Zürcher Einkaufszentrum Sihl City, das dem schmalen Debüt seinen Titel verleiht, bildet die Kulisse der ersten Erzählung. Die Erzählerin und ihre Liebhaberin – es ist unklar, ob sie sich gerade erst kennengelernt haben oder eine Beziehung führen – malen sich gemeinsam eine fiktive Sommernacht in einem alternativen Universum aus, in der sie sich auf einer WG-Party kennenlernen würden.
In einer anderen Geschichte diskutieren die Erzählerin und ihre Freundin die Vor- und Nachteile des Alleinschlafens. „Das ist doch so ein dummer Mach-dich-rar-Gedanke, den Heteros immer so performen, darauf sollten wir nicht hereinfallen“, entgegnet ihre Freundin auf ihren Einwand, man wüsste sich weniger zu schätzen, würde man immer zusammen schlafen. In Wahrheit hat die Erzählerin einfach gern diese Momente vor dem Einschlafen für sich allein:
„Ich höre die Geräusche und manchmal bin ich dann seltsam ergriffen, und das Gefühl in mir kommt auf, dass mein Leben nie schöner sein wird als jetzt.“
Eine queere, heile Welt
Es handelt sich um Coming-of-Age-Geschichten, um eine rastlose Protagonistin, die sich selbst und ihr Begehren erkundet. Sie drehen sich ums Kennenlernen, um frisch Verliebtsein und unerwiderte Gefühle. Konflikte gibt es kaum. Die meisten Geschichten drücken eine Unbeschwertheit aus: Die Protagonistin hüpft von einer Szene in die nächste, sie hört dem Plätschern des Brunnens vor ihrem Fenster zu, radelt mit ihren Freund*innen an den See, tanzt mit ihrer Freundin in der WG-Küche und schläft dort auf dem Fußboden mit ihr.
Selbst das Coronavirus, das am Rande als Zeiteinteilung gestreift wird, die erste Welle, die zweite Welle, scheint der sorglosen Welt nichts anhaben zu können. Melancholisch erinnert sich die Erzählerin mal an das Zurechtmachen für queere Partys. Auch die WG-Party, auf die sie sich mit ihrer Liebhaberin wünscht, mag ein Hinweis auf die Pandemie sein.
Queerfeindlichkeit und patriarchale Gewalt stehen nicht im Mittelpunkt der Geschichten, ihre Existenz wird jedoch nicht ausgeklammert. Etwa, als die Erzählerin und ihre Liebhaberin sogar in der imaginierten Version ihres Kennenlernens aufhören sich in der Öffentlichkeit zu küssen, als eine Gruppe Männer vorbeikommt. Oder als die Erzählerin sich an sexuelle Belästigung durch erwachsene Männer, die sie als Jugendliche erlebt und als Teil des Erwachsenwerdens abgetan hatte, erinnert.
Träume von großen Gefühlen
Mit schlichter, klarer Sprache beschreibt Darja Keller die Zwischenräume von Begegnungen, das Ungesagte, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Verbundenheit. Sie gibt den großen Gefühlen, die in den kurzen Momenten und scheinbar nebensächlichen Gesprächen stecken, einen Raum. So etwa, als die Erzählerin sich nach einem Date mit Sarina, die sie kaum kennt, den ganzen Tag detailliert ausmalt, wie wohl eine Zukunft mit ihr aussähe – inklusive Trennung:
„Und bald wäre es ein wenig vorbei; Sarina würde sich sporadischer melden, und irgendwann würde sie sich ein wenig zu früh am Abend mit mir in einem Café treffen wollen, Sarina wäre freundlich, sie würde, sagen wir, eine Tasse grünen Tee trinken. Ich würde Kaffee bestellen, schwarz.“
Der wiederholte Gebrauch des Konjunktiv fällt auf, ständig träumt sich die Erzählerin an einen anderen Ort. In die Welt, die Darja Keller entwirft, lässt es sich ebenfalls gut hineinträumen.
Darja Keller: Sihl City. Erzählungen. Erschienen 2022, Re:sonar Verlag, 68 Seiten.
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