98% der Literatur sind blinden und sehbehinderten Menschen nicht zugänglich. Die Initiative Buchpatenschaften des Fördervereins Freunde der DZB versucht, diese Situation zu ändern, und mehr sogenannte Schwarzdruckbücher in Braille- oder Hörbücher zu übertragen. Im Gespräch mit Ludwig Henne vom Förderverein wollte ich mehr darüber erfahren.
Können Sie Brailleschrift lesen?
Ich habe mal einen Kurs mitgemacht und kann die Buchstaben so halbwegs. Was aber gar nicht geht ist das Fühlen, also mit dem Finger über die Zeilen zu gehen, über diese Noppen, da merke ich gar keinen Unterschied. Das ist selbst mit jahrelanger Übung schwierig. Wenn man Brailleschrift von Anfang an lernt und die Finger dabei benutzt, ist das für einen die normale Sprache. Aber wenn man die Brailleschrift mit den Augen erlernt, ist das für die Finger sehr schwierig.
Den Förderverein Freunde der DZB gibt es seit 2004. Seit wann gibt es die Buchpatenschaften und wie ist es dazu gekommen?
Die Buchpatenschaften begannen ungefähr ein, zwei Jahre nach der Gründung des Fördervereins. Die Idee dahinter war, ein Instrument zu haben, um an die Öffentlichkeit zu treten. Wir wollten auf das Thema aufmerksam machen und die Menschen motivieren, sich zu engagieren und zu helfen, Bücher zu übertragen. Im vorletzten Jahr war das 10-jährige Jubiläum des Fördervereins und wir haben diesen Anlass genutzt, um die Struktur der Buchpatenschaften zu vereinfachen. Es gibt die Bronzene, Silberne und Goldene Patenschaft. Die Idee dahinter war, möglichst viele Menschen damit anzusprechen und eine geringe Hürde zu haben, Buchpate zu werden. Bei der Bronzenen Patenschaft kann man schon ab € 25 eine Buchpatenschaft übernehmen.
Wie werden denn die Titel ausgesucht, die mit den Buchpatenschaften übertragen werden sollen?
Wir versuchen, die Breite des Buchmarktes wiederzugeben. Wie man auf der Homepage sieht, haben wir eine sogenannte Klassikliste und eine aktuelle Liste. Wir haben eine Buchauswahlkommission, die sich zweimal im Jahr zusammensetzt und Titel aussucht, die übertragen werden sollen. Das soll widerspiegeln, was am Buchmarkt funktioniert, da sind dann auch Bestseller mit dabei. Aber auch wichtige Werke der klassischen modernen Philosophie, wie zum Beispiel Adorno. Ich persönlich schaue auch darauf, was sich als Buchpatenschaft gut „vermarkten“ lässt, dass bekannte Namen mit dabei sind.
Am Ende des Videos heißt es, dass 98 Prozent der Literatur blinden und sehbehinderten Menschen nicht zugänglich sind. Woran liegt das?
In Deutschland erscheinen jedes Jahr ungefähr hunderttausend Titel auf dem Buchmarkt. Und alle Blindenbüchereien in Deutschland übertragen zusammen etwa 2.000 Titel. Das hängt vor allem mit dem technischen Aufwand zusammen. Ein Buch in Brailleschrift zu übertragen ist kompliziert. Das liegt zum Beispiel daran, dass es noch keine einheitlichen Formate in den Verlagen gibt, die wir nutzen können, um die Übertragung in Brailleschrift am Rechner zu machen. Das heißt, wir bekommen von Verlagen teilweise Daten, die nicht automatisch übertragbar sind, oder nur in Teilen, und dann aber noch zweimal gegengelesen werden müssen. Wir haben Leseduos bei uns im Haus, die komplette Bücher zweimal lesen, um alle Fehler bei der Übertragung herauszunehmen. Das ist ein langwieriger Schritt. In der Deutschen Zentralbücherei für Blinde haben wir eine Druckerei und Binderei, die diese ganzen Prozesse selber macht.
Und es sind wahnsinnig große Bücher. Der Herr der Ringe zum Beispiel, was schon an sich ein dickes Buch ist, wenn man es normal in der Hand hat, ist in Brailleschrift ungefähr 2 Meter lang, das sind ungefähr 15 bis 18 Bände in A4. Das ist einfach unheimlich viel Material. Und dazu kommt noch, dass so ein Buch auch in der Produktion teuer ist. Ein normales Buch wird ja in großer Auflage produziert und ist darum preiswert. Aber für Braillebücher gibt es keinen Markt, weil es natürlich nicht so viele blinde und sehbehinderte Menschen gibt. Darum produzieren wir ein oder zwei oder drei Exemplare, und das macht die Herstellung unheimlich teuer.
Im deutschsprachigen Raum gibt es vier oder fünf Bibliotheken, die überhaupt herstellen. Die sind alle entweder öffentlich finanziert, wie die Deutsche Zentralbücherei, die vom Freistaat Sachsen finanziert wird. Oder es sind Stiftungen oder Vereine, die über Spenden finanziert werden. Es gibt keine Einrichtung, die kommerziell arbeitet, weil das nicht funktionieren würde.
Es gibt aber den sogenannten Medibus-Verbund, wo alle Blindenbüchereien, die Blindenbücher herstellen, miteinander verbunden sind und sich auch genau absprechen, wer welches Buch überträgt.
Dann werden Braillebücher vermutlich auch selten gekauft, weil sie auch für den Endverbraucher entsprechend teuer sind?
Genau. Wir haben auch eine Verkaufsabteilung. Die DZB stellt ja nicht nur Bücher her, sondern auch Postkarten, Kalender, Reliefkarten und Materialien für Schulen. Das sind dann eher Sachen, die gekauft werden. Wir haben einen Kalender, den wir jährlich ungefähr 1.000 Mal verkaufen, außerdem ganz viele Postkarten, die man sich zu Weihnachten, Ostern oder zum Geburtstag schicken kann. Auch kleine Spiele oder taktile Kinderbücher. Aber das klassische Buch wird eher nicht verkauft, sondern geliehen, denn das ist kostenlos. Mit der Deutschen Post gibt es schon seit Jahrzehnten einen Deal, dass der Versand von Blindenschrift kostenlos ist.
Und wie ist das bei den Hörbüchern?
Über das DAISY-Format gibt es auch immer wieder Diskussionen. An sich ist das ein sehr gutes Format. Im Grunde ist es ein mp3-Format, aber ein bisschen komplexer. Während ich bei einer ganz normalen mp3-Datei nur von Titel zu Titel springen kann, erlaubt mir das DAISY-Format auch seitenweise vorzuspulen, von Kapitel zu Kapitel. Ich kann absatzweise nach vorne oder nach hinten gehen. Es gibt sozusagen mehrere Unterstufen und das erhöht den Lesekomfort. Allerdings braucht man dazu einen speziellen DAISY-Player und diese Geräte sind oft sehr teuer. Darum bieten wir seit ein paar Wochen unsere ganzen Hörbücher auch als DAISY-Download an. Dazu gibt es eine App, mit der man sich die Hörbücher von der Homepage herunterladen kann, und sich nicht mehr die CDs zuschicken lassen muss. Das führt dazu, dass wir neue Nutzer gewinnen können, oder auch alte Nutzer, die uns lange nicht mehr besucht haben, kommen jetzt über diesen Download wieder zu uns.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Buchpatenschaften?
Unser großes Ziel ist, durch die finanzielle Unterstützung noch mehr Bücher übertragen zu können. Darüber hinaus wollen wir auch außerhalb der „Blindenszene“ wahrgenommen werden. Bisher werden wir stark von unseren Nutzern unterstützt, die es toll finden, die Bücher kostenlos nutzen zu können, also spenden sie auch gerne für die Buchpatenschaften. Aber viel wichtiger ist, auch außerhalb der Blindencommunity Verständnis für unser Thema zu bekommen, weil es da von kaum jemandem wahrgenommen wird. Die Menschen, die einmal eine Führung in der DZB mitmachen oder zum Tag der offenen Tür kommen, sind sehr begeistert von unserer Arbeit. Und darum ist es auch unser Ziel, eine größere Akzeptanz zu schaffen und darauf hinzuweisen, dass 98% der Literatur für blinde und sehbehinderte Menschen nicht zugänglich ist. Das sollte in einer modernen Gesellschaft eigentlich nicht sein.
Was möchten Sie unseren Leser_innen zum Abschluss noch mit auf den Weg geben?
Ich fände es schön, wenn die Menschen sich grundsätzlich damit beschäftigen würden, dass wir Literatur als etwas unheimlich Wichtiges erachten, als einen Grundwert unserer Gesellschaft. Literatur ist lebendiger denn je, es gibt großartige Sachen und ich freue mich jedes Jahr über die tollen Veröffentlichungen. Aber man muss sich bewusst werden, dass Blinde und Sehbehinderte in großen Teilen keinen Zugang zu diesen neuerscheinenden Büchern haben. Das sollte gerade für Literaturbegeisterte auch ein Anliegen sein, zu helfen und zu unterstützen, dass auch die, die kein Augenlicht mehr haben dieselben Bücher lesen können.
- Im Gespräch mit Ludwig Henne - 8. Juli 2016