Wie weit darf man im Kampf für eine bessere Welt gehen? Ist es gerechtfertigt im Dienste höherer Ideale andere Menschen zu verletzen, sich am fremden Eigentum zu bedienen und sein gesamtes Umfeld zu betrügen? Und wer ist eigentlich ein guter Mensch? Jemand, der auf das Gute pocht, oder jemand, der die ambivalente Natur des Menschen in all ihren Facetten versteht und achtet?
Über diese Thematik hat Irina mit dem niederländischen Schriftsteller Daan Heerma van Voss gesprochen. Kurz vor Weihnachten erschien die Übersetzung seines Romans „Abels letzter Krieg“ ins Deutsche. Er erzählt von dem gescheiterten Schriftsteller Abel Kaplan, der mit teils skurrilen Mitteln versucht, die Welt um sich herum in Ordnung zu bringen. Seine Geschichte führt vor Augen, wie Missstände und Probleme einer ganzen Gesellschaft auf persönlicher Ebene ausgefochten werden und manchmal überraschende Wege einschlagen.
Daan, der Protagonist deines Buches, Abel Kaplan, stößt auf die Memoiren eines KZ-Überlebenden und beschließt ein Buch zum Gedenken an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg zu veröffentlichen. Sein Verleger wittert den großen Erfolg. Mit den Worten des israelischen Politikers Abba Ebans kommentiert er: „There´s no business like Shoah-business“. Was bedeuten die Themen Krieg und Holocouast für dich persönlich?
Für mich hat der Krieg schon immer eine große Bedeutung gehabt und mich als Thema lange begleitet. Mein Vater war besessen vom Krieg. Er ist 1942 geboren und glaubt sich an die Kriegszeit zu erinnern. Er hat immer sehr viel darüber gelesen. Daher habe auch ich seit meiner Kindheit ein Wissens-Reservoir, das ich auch für mein Buch nutzen konnte. In den Neunzigern, als ich aufwuchs, wurde nicht viel über den Krieg geredet, aber in den letzten zehn Jahren hat sich das sehr verändert. Das Thema ist ständig präsent, wenn auch nur unterschwellig. Und es interessiert mich, wie etwas wieder an die Oberfläche gelangen kann, über das lange nicht mehr gesprochen wurde.
Als Leser neigt man gelegentlich dazu, Parallelen zwischen dem Autor und bestimmten Figuren, häufig dem Protagonisten, zu ziehen. Ich habe mich auch schon dabei erwischt, autobiographische Vermutungen anzustelllen, auch wenn ich es als Literaturwissenschaftlerin eigentlich besser weiß und Schriftsteller sich fast immer von den Figuren persönlich distanzieren.
Es ist eine Art Konvention, das zu behaupten. Schriftsteller sagen immer solche pseudointeressanten Dinge, wie zum Beispiel: Ich bin nicht der Protagonist, es gibt da einen sehr großen Unterschied. Und natürlich gibt es ihn, aber es ist viel spannender über die Ähnlichkeiten zu sprechen. Es gibt immer eine Relation zwischen den Figuren und dem Autor. Ich glaube, die Hauptfigur ist eine codierte Version des Autors. Und wenn man den perfekten Schlüssel hätte, könnte man ihn entziffern. Aber der einzige, der den Schlüssel hat, ist natürlich der Autor selbst.
Das ist eine interessante These! Zwischen deinem Protagonisten Abel Kaplan und dir gibt es auch Parallelen. Ihr seid beide studierte Historiker, die dann zu Schriftstellern wurden…
Ja, das stimmt. Allerdings ist Abel für mich kein richtiger Schriftsteller. Er hat nur ein Buch vor vielen Jahren geschrieben. Und ich habe zwar einen Master in Geschichte, aber ich sehe mich selbst nicht als einen richtigen Historiker. In diesem Buch sind die Ähnlichkeiten zwischen mir und der Hauptfigur tatsächlich relativ gering. Abels komplette Biographie ist anders. Seine Beziehungen, die Lebensphase, in der er sich gerade befindet. Das Einzige, das wir wirklich gemeinsam haben, ist, dass wir es nicht ertragen, wenn Dinge vergessen werden. Dieses Gefühl teilen wir.
Wie tickt jemand? Was macht jemanden zu der Person, die er oder sie ist?
Dein Buch behandelt auch viele psychologische Themen. Woher kommt dein Wissen auf dem Gebiet?
Das ist einfach der Bereich, der mich am meisten interessiert. Ich habe während meines Geschichtsstudiums begriffen, dass mich Fragen interessieren wie zum Beispiel: Wie tickt jemand? Was macht jemanden zu der Person, die er oder sie ist? Mir geht’s nicht so sehr um Geschichte, oder die Gesellschaft. Es mag zwar von außen so wirken, aber für mich geht es zum Beispiel bei Abel Kaplan darum, dass er gewisse Dinge nicht enden lassen möchte und dass er einfach ein guter Mensch sein will. Das ist es, worum es für mich in dem Buch geht. Vermutlich werden aber die meisten Leser das Buch als sehr gesellschaftskritisch sehen. Das ist es zwar auch, für mich aber nicht primär.
Es gab also keine dezidierte Absicht Gesellschaftskritik zu üben und all die Probleme, die sich gerade in der Welt wiederholt entfalten anzusprechen?
Nein, das war nicht meine Absicht. Ich habe beim Schreiben gefühlt, dass es die Richtung einschlägt und ich fand es spannend und bin nicht davor zurückgeschreckt. Aber es war, wie gesagt, nicht die Hauptintention.
Abel ist eine sehr ambivalente Figur. Einerseits möchte er in einer anständigen Welt leben und tut einiges dafür, Probleme zumindest in seinem direkten Umfeld anzugehen. Andererseits scheint seine Motivation rein egoistischer Natur zu sein, er möchte sich unbedingt als ein guter Mensch positionieren. Wie viel von diesem Abel Kaplan steckt in uns allen?
Ja, das ist eine spannende Frage. Abel ist jemand, der mehr an sich selbst interessiert ist, als an anderen. Er ist sehr idealistisch, aber nicht kompromissbereit. Und er ist besessen davon, das Richtige zu tun und ein guter Mensch zu sein, überlegt aber nicht, was das Richtige und Gute eigentlich ist. Wir alle haben diese Elemente in uns. Damit hängt auch zusammen, ab wann man sich nicht länger mit ihm identifizieren kann. Und wir haben alle einen unterschiedlichen Punkt, an dem wir ihn verlieren.
Eines der Probleme, dem sich Abel widmet, ist der Umgang mit Geflüchteten. Er befreit einen Roma-Jungen aus einem Auffanglager und versteckt ihn anschließend bei sich in der Wohnung. Das Versteck und die Umstände sind aber völlig untragbar. Im Grunde ein Art Gefängnis. Das Kind muss den ganzen Tag in einer engen Nische ausharren, darf keinen Mucks von sich geben, bekommt sogar die Haare blondiert, damit es wie ein holländischer Junge aussieht und erfährt nichts darüber, wie es mit ihm weitergeht. Trotzdem glaubt Abel, das Richtige zu tun und den Jungen vor einer Abschiebung zu bewahren. Seine Motivation ist allerdings nicht so uneigennützig, wie es zuerst scheint.
Die eigentliche Frage ist doch: Ist es wichtig, woher seine Motivation kommt? Stell dir vor, jemand geht nach Lesbos, um den dort gestrandeten Flüchtlingen zu helfen. Allerdings tut er das nur, um sich selbst besser zu fühlen. Wäre die Tat an sich dadurch schlechter? Ist es besser, eine gute Tat aus einer schlechten oder einer nicht uneigennützigen Motivation heraus zu tun, oder überhaupt nichts zu tun? Die beste Option ist natürlich immer, wenn Menschen etwas Gutes aus einer noblen Motivation heraus tun, aber diese Menschen sind sehr, sehr rar. Und Abel ist nicht einer von ihnen.
Vielleicht ist es ja nicht reiner Egoismus, sondern auch die Suche nach Bedeutung für das eigene Leben?
Diese Suche nach Bedeutung des eigenen Lebens ist uns allen inhärent. Das ist etwas, das alle Gutmenschen und überhaupt alle Menschen miteinander teilen. Auch Menschen, die Flüchtlingen oder anderen Menschen helfen, tun das, um dem eigenen Leben mehr Bedeutung zu verleihen. Aber das ist keine schlechte Motivation. Es ist sogar völlig in Ordnung. Im Buch geht das Ganze erst dann schief, als Abel anfängt andere Menschen zu verletzen. Aber manchmal muss man den Menschen auch einen geringen Schmerz zufügen, um sie vor einem größeren Unheil zu bewahren. Das Ganze ist sehr heikel und beinahe eine philosophische Grauzone. Ich wollte in dem Buch genau in diese Grauzone eintauchen und etwas schaffen, das den Leser zwingen würde, sich innerlich zu positionieren.
Das Ego und die Bedeutung des eigenen Standings in der Gesellschaft ist eine Illusion.
Du hast mal bei einem TED Talk gesagt: „Wir werden geboren mit der Illusion wichtig zu sein.“ Das klingt erst einmal nach großem Ego. In Abels Fall ist es aber kein narzisstisches Streben, das ihn antreibt. Ihm geht es vielmehr um eine Daseinsberechtigung, um einen guten Grund dafür jeden morgen aufzustehen.
Ja genau. Er braucht etwas, um sein Selbstwertgefühl zu stärken. Das Ego und die Bedeutung des eigenen Standings in der Gesellschaft ist eine Illusion. Eine Illusion, der vor allem junge Menschen verfallen. Die Generation meiner Eltern ist zum Beispiel ganz anders in dieser Hinsicht. Aber die Leute meiner Generation sind mit der Idee großgezogen worden, dass sie unglaublich wichtig sind, dass sie etwas Besonderes sind.
Um eine Gegenüberstellung dieser beiden Generationen geht es auch in deinem neuesten Buch „Call it Love“, das in Holland bereits im Mai 2018 erschien.
Das ist richtig. Es geht darin um die Kluft zwischen jungen Menschen, die Liebe als etwas sehen, das ihnen möglichst viel geben sollte und älteren Menschen, für die Liebe etwas ist, das man anderen gibt. Diesen Unterschied zwischen den Generationen habe ich aufgegriffen.
Das klingt nach einer spannenden, wenn auch vermutlich unbeabsichtigten, Gesellschaftsanalyse. Vielen Dank für das Gespräch, Daan!
[Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.]
*Daan Heerma van Voss, geboren 1986, debütierte im Alter von 24 Jahren mit dem Roman „Ein Sonntagsmann“. Seither hat er zahlreiche weitere Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig Artikel für Zeitungen in der ganzen Welt.
Abels letzter Krieg wurde von Gregor Seferens ins Deutsche übersetzt und ist im Dezember 2018 im dtv Verlag erschienen. 381 Seiten, ca. 24 €.
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