Mit ihrem Debütalbum „The Small Things“ setzen die beiden Musikerinnen von Miss O’Paque ein Kleinod in die Welt der Singer-Songwriter. Kennengelernt haben sich Sängerin Anna Bolz und Gitarristin und Filmmusikkomponistin Franziska Henke zu Beginn ihrer Studienzeit im Winter 2007 in Dresden. Ausschließlich mit zwei Stimmen und einer Gitarre entstanden zahlreiche Songs, die von der Berlinerin Anna geschrieben werden. Mit ihr habe ich über die Entstehung ihrer Texte gesprochen und inwiefern Beobachtungen, Gefühle oder Alltägliches Einfluss auf ihr Schreiben nehmen.
„The Small Things“ heißt euer erstes Album. Man sagt, für das erste Album hat man ein ganzes Leben Zeit. Wie und wann sind die Texte zu eurem Debütalbum entstanden?
Unser Debütalbum „The Small Things“ ist aus meiner heutigen Sicht betrachtet tatsächlich eine Art Tagebuch unserer Anfänge. Die Songtexte dafür sind alle ungefähr zwischen 2011, Franziskas und meinem ersten musikalischen Zusammentreffen, und dem Albumrelease 2015 entstanden. Die Inhalte der Songs sind zeitlos, dennoch merke ich, dass mich heute ganz andere Themen bewegen und ich auch anders schreibe.
Wenn du ein Lied schreibst – womit fängt es an? Mit einer Melodie, einem Gedanken, Wortfetzen?
Das ist immer unterschiedlich. Meistens jedoch habe ich eine Melodie im Kopf, dazu ein paar Wortfetzen, die nicht unbedingt immer vom ersten Augenblick an Sinn machen müssen. Die grobe Kontur der Idee, also das erste Gefühl für den Song, auch sprachlich betrachtet, steht hier erst mal im Vordergrund. Aber es kommt auch sehr darauf an, womit ich mich gerade vornehmlich auseinandersetze. Mein Fokus rotiert in gewissen Zyklen. Wenn ich überwiegend Gedichte lese und schreibe, beginnt die Idee eines Liedes bei mir eher in Form von Sprache wie etwa Metaphern, Wortspielereien oder Paradoxa, die ich spannend finde. Übe ich viel Klavier, entstehen zuerst Begleitpattern und Harmonien. Mein Gehirn ist dann sozusagen eingestimmt auf die jeweilige Nervenbahn und tobt sich auf diesem Funkweg aus. Das geht wahrscheinlich nicht nur mir so.
Inwiefern beeinflusst deine Umwelt dich in deiner Stimmung und in der Art und Weise, wie du Songs schreibst?
Inhaltlich sind alle meine Songs kurz- oder mittelfristige Reaktionen auf Geschehnisse in meiner Umwelt. Wenn ich mich aber hinsetze und texte oder komponiere, hat diese nicht so viel Einfluss auf das Ergebnis, da der innere Faden für die Geschichte bereits steht. Der Song wird am nächsten Tag also nicht unbeschwerter, weil draußen die Sonne scheint. Oder umgekehrt.
Was Singer-Songwriter betrifft, redet man viel über Authentizität. In Deinen Texten geht es nicht selten um Liebe, Verletzlichkeit und ähnliche ambivalente Gefühlswelten. Ist das eher Fiktion, und du nimmst lieber die Rolle eines Geschichtenerzählers oder Performers ein oder versuchst du Themen aus deiner eigenen Biographie in deinen Lyrics zu verarbeiten?
Ich glaube, dass niemand, egal ob Fiktion oder Biografie, eine Geschichte erzählen kann, die nicht in irgendeiner Art und Weise auch etwas mit ihm zu tun hat. Sobald man eine Geschichte erzählt, erzählt man auch etwas über sich selbst. Warum sind die Charaktere so und nicht anders geartet, wer reagiert wie auf wen, wohin entwickelt sich das Geschehen… Das alles sagt auch etwas über die erzählende Person aus. In meinem Fall ist es wohl eine Mischung. Meine Gefühle bilden definitiv die intuitive Verbindung zu meinen Ideen und lassen mich tief in eine Thematik oder Geschichte eintauchen. Beim Singen ist das übrigens auch so.
Es gibt Musiker*innen, die behaupten, dass Songtexte vor Freude beinahe wie von selbst aus ihnen heraussprudeln, ganz so, als schrieben sie sich von alleine. Wie ist das für dich – Selbstläufer oder harte Arbeit?
Davon habe ich auch schon mal gehört! Dabei kann doch nur „High in the sky I fly“ rauskommen! Spaß beiseite: Für mich ist das meistens harte Arbeit. Es ist, als müsste mein Hirn unter allen Umständen jede einzelne Zeile in den manischen Kreis meiner persönlichen Auffassung von Proportion und Form gebären. Und dabei sehe ich das rational betrachtet alles gar nicht so eng, ganz im Gegenteil. Ich mag Brüche sehr. Aber meistens entwickelt sich während des Schreibens eine intuitive, sehr subjektive Vorstellung von Perfektion, was den jeweiligen Song anbelangt. Man weiß einfach, „Nee, das Wort ist es noch nicht, das klingt zu weich, zu hart, trifft es nicht wirklich auf den Punkt“ usw.
Wie hältst du deine Ideen fest, hitverdächtige Melodien oder Lyriks, wenn du unterwegs bist?
Haha, erwischt! Ich nuschele sie auf dem Weg von A nach B in mein iPhone. Jedes Mal, wenn ich sie mir anhöre, denke ich: „Mensch, schalt doch mal einen Gang runter.“ Ich klinge immer ziemlich außer Atem.
Welche Künstler*innen inspirieren dich? Welche Literaten beeinflussen dich beim Schreiben?
Mich inspirieren Menschen, die große Klarheit ausstrahlen und sich bedingungslos und mutig innerhalb ihrer Kunst ausdrücken und sie nutzen, um sich und ihre Umwelt immer wieder neu zu erfahren. David Bowie z.B., der es geschafft hat, sich stets neu zu erfinden und trotzdem einen solch klaren roten Faden durch sein Lebenswerk zu ziehen, dass es fast schon gruselig ist. Oder Marina Abramovic, deren Willensstärke und konzeptionelle Ausrichtung mich sehr beeindrucken und berühren. Als Literat hat mich zuletzt Allen Ginsberg mit „Howl“ so richtig vom Hocker gerissen. Das hatte weniger mit Klarheit zu tun, ist auch schon etwas länger her, aber da haben mich das buchstäbliche Herauskotzen von Gefühlen, diese Maßlosigkeit und die vulgäre Verzweiflung sehr fasziniert.
Deine Texte sind auf Englisch. Hast du jemals daran gedacht, deutsche Liedtexte zu schreiben?
Ha, ja! Dabei herausgekommen sind Gedichte.
Welche literarische Vorlage würdest du gerne in Lyrics verwandeln?
Ich bin vor wenigen Tagen auf „Diving into the Wreck“ von Adrienne Rich aufmerksam gemacht worden und sogleich der Kraft und Schönheit ihrer Sprache verfallen. Das Schiffswrack auf dem Meeresgrund – ein großartiges Bild. Es ist perfekt. Und spricht mich auf einer sehr tiefen Ebene an.
Bob Dylan erhielt als erster Popmusiker den Literaturnobelpreis 2016. Wie war deine Reaktion? Ist ein Songschreiber literaturpreiswürdig?
Meine unmittelbare Reaktion war erst mal beschämend eindimensional: Wie, Popmusik? Im zweiten Gedanken fand ich es gut, vor allem wegen der Aufweichung solch eindimensionaler Grenzen im Kopf. Vielleicht wäre nicht jede Lyrik auch ohne ihren Kontext bemerkenswert oder gar auszeichnungswürdig, aber in allem kann unbemerkt ausgezeichnete Lyrik stecken. Von daher hat die Jury mit Bob Dylan sicherlich eine sehr gute Wahl getroffen.
Wie würde der Titel eurer Bandbiografie lauten?
Slowly but surely.
Vielen lieben Dank für das Gespräch, Anna.
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