Im Oktober letzten Jahres startete die Zentral- und Landesbibliothek einen Workshop für „Menschen mit und ohne Fluchterfahrung“. In Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma Glocal Films und Berliner Geflüchteteninitiativen lernten neun Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Rumänien, Kurdistan, Syrien und Deutschland, wie man technisch und dramaturgisch digital Geschichten erzählt. Welche Geschichten sie erzählten, war allerdings ihnen überlassen. Am vergangenen Freitag war Premiere des sogenannten „#LibraryOfStories“-Projekts.
Wer großartige Videokunst am Freitagabend erwartete, der hat nicht verstanden, worum es geht. „Wir haben nicht versucht, besonders professionell zu sein. Wir haben währenddessen nicht daran gedacht, ein gutes Video zu machen“, erklärt Morad Aldeeb zur Entstehung einer seiner Filme. Hier geht es um die Geschichten. Und die sind trotz ein wenig holpriger Übergänge und ab und an hallendem Ton gelungen.
Im Sommer haben wir uns bei Litaffin schon einmal gefragt, was Geflüchtete in Deutschland eigentlich interessiert. Kurz nach der Ankunft sind kulturelle Bedürfnisse längst nicht die dringlichsten, mittlerweile haben viele in Deutschland aber schon ihren zweiten Jahreswechsel verbracht. Viel Zeit ist verstrichen, in der es wenig zu tun gab. Aber Langeweile schafft auch Freiraum zum Entdecken und Nachdenken – und wurde dann im Fall der neun Workshop-Teilnehmenden vielleicht ein wenig durch das Video-Projekt abgelöst.
Ich erhoffte mir von der Premiere ein paar ehrliche Antworten. Aber war meine Frage nicht eigentlich verfehlt? Gar diskriminierend? „Was interessiert Geflüchtete?“ – als wären sie nicht genauso Mensch wie jeder andere auch. Oder schafft ihre besondere Lebenssituation nicht vielleicht doch besondere Bedürfnisse, denen eine spezielle Aufmerksamkeit gebührt? In den Medien kommen Menschen mit Fluchterfahrung häufig zu Wort. Allerdings werden sie dort in der Regel gezielt nach ihren schlimmsten Erlebnissen und Erfahrungen befragt. Bei #LibraryOfStories war das nicht der Fall. Die Videointeressierten erzählten einfach, was ihnen auf der Seele brannte. Vielleicht schwiegen sie sogar zum Thema Flucht, überlegte ich mir in der U2 zum Spittelmarkt.
So war eine Themenvielfalt in den Kurzfilmen, die in der Berliner Stadtbibliothek vorgeführt wurden, gar nicht überraschend. In Hassan Alkhalafs Film ging es um die syrischen Schätze im Pergamon Museum, in Ismail Karayakupoglus Video reist ein Goldfisch mit der S-Bahn durch Berlin und bei Morad Aldeeb – so banal es klingt – wird gegessen. Aber was steckt dahinter?
Für manche ist es eben Essen, für andere vielleicht Kunst – hier ist die Rede von Heimatserinnerungen. Ich war mir unsicher, ob viele von der Flucht erzählen würden – aber dass Heimat ein Thema sein muss, das hätte mir klar sein können. Wer schon mal im Ausland gelebt hat oder alleine verreist ist, kennt das: Alles ist aufregend. Warum? Weil es sich so von der Heimat unterscheidet. Und mit eben dieser Heimat vergleicht man alles Neue, an vielen Punkte vermisst man das Altbekannte, die Gewohnheit, dass man verstanden wird.
Umso schöner ist es, wenn dieses Gefühl auch in Berlin Einkehr halten kann. Morad Aldeebs Film handelt von seinem ersten Freund in Berlin. Es ist eine poetische Liebeserklärung von gegenseitiger Unterstützung, von Empathie und dem Blick in die Zukunft – und ist noch viel mehr als ein Film. Das betont Morad bei einer Fragerunde im Anschluss an die Premiere der Filme besonders. Eine Inventur der Gefühle zu machen, aufzuschreiben, was man schon zusammen erlebt hat und was man sich gegenseitig bedeutet, darauf sei es vor allem angekommen.
Deutlich wird in den Filmen aber auch, dass einem Geflüchteten das weltoffene Berlin nicht immer so offen steht wie etwa Deutschen, die zum Studieren in die Stadt ziehen. „Fremd“ heißt Ismails Film. Er zeigt einen Goldfisch an mehreren Bahnhöfen und in Zügen. Er kann beäugt werden, aber ist völlig abgeschottet. Er versteht nicht, was um ihn herum passiert, wirkt deplatziert, zeitweise panisch. Auch Omar Sourakli thematisiert das Fremdsein. In Berlin hat er schnell Freunde gefunden, die aus seiner Heimat stammen. Doch mit ihnen lebt er in einer abgeschotteten Parallelwelt, nicht integriert. Die Angst vor Abschiebung ist allgegenwärtig. Der Verlust von Anerkennung deprimiert.
Mir wurde oft in öffentlichen Räumen gesagt: „Lach nicht so laut!“ Ich fühle, dass ich langsam mein Lachen vergesse. Ich träumte oft, dass ich abgeschoben werde, weil ich bei meiner Anhörung wegen einer komischen Situation lachte. – Ismail Karayakupoglu
Viele Filme spielen an Flughäfen und Bahnhöfen. Das ist bemerkenswert, dienen diese Plätze doch sonst eher zur Durchreise und nicht als Zielschauplatz. Die etwaige Rückkehr in die Heimat schwebt auf einer fragezeichenförmigen Wolke stets über Berlin.
„Das Erzählen hilft uns, mit unseren Erlebnissen umzugehen“, verkünden die Künstlerinnen und Künstler einstimmig bei der Premiere. Das Projekt hilft aber vielleicht nicht nur bei der Vergangenheitsbewältigung, denke ich mir auf dem Heimweg. Langeweile kann ein großes Problem sein. Der Verlust von Anerkennung ein noch größeres. Die neun Projekt-Teilnehmenden haben es aber in Deutschland schon zu etwas gebracht. Sie können Videos produzieren, sie hatten eine Filmpremiere in Berlin. Zwei Dinge, die ich von mir nicht behaupten kann. Sie sahen stolz aus, aufgereiht vor der Leinwand.
Die neun Künstlerinnen und Künstler leisten einen wichtigen Beitrag zur Chronik unserer Zeit – eine Zeit, in der es viel Schrecken gibt, aber auch Umbrüche, auf die die Nachwelt zurückblicken wird. Und ein paar Gedanken, ein paar Geschichten werden erhalten bleiben.
Das Erzählen hilft uns, mit unseren Erlebnissen umzugehen.
Zuhause bereue ich, dass ich mich zuvor im Publikum nicht gemeldet hatte. Gerne hätte ich den Neun vor der Leinwand gesagt: „Richtig so! Ihr habt einen wichtigen Schritt getan und jetzt lauft los. Schreibt Bücher, dreht Filme!“
Gefehlt haben beim Abend allerdings die arabischen Frauen. Welche Geschichten haben sie zu erzählen? Warum will oder kann keine bei einem solchen Workshop mitmachen? Und was können wir tun, um das zu ändern?
Einige der Videos von #LibraryOfStories findet ihr auf der Website Berliner Großstadtgeschichten.
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ich bin beeindruckt.