Tina und ihr Fritzemann hatten eine Todgeburt. Ein Schock. Wut, Schmerz und Schuldgefühle. Wie soll man mit dieser Ungerechtigkeit einfach weiterleben? Um nicht durchzudrehen, stürzt die Comiczeichnerin sich in ihre Arbeit – herausgekommen ist dabei Das Licht, das Schatten leert, eine autobiografische Graphic Novel, die das Erlebte zu verarbeiten versucht. Ein schonungsloser und sehr persönlicher Bericht über Verlust und Trauer, aber auch voller Zuversicht und Witz.
»Es ist hart, ein Leben im Konjunktiv führen zu müssen.« (26)
Fritzemann und Tina hatten eine Totgeburt. Lasse hätte ihr erstes Kind mit Ende Dreißig sein sollen, und alles schien in bester Ordnung; die Werte stimmen und das Paar freut sich wahnsinnig auf die Familiengründung. Doch dann bringt ein unentdeckter Schwangerschaftsdiabetes den kleinen Lasse kurz vor der Geburt um. Ein Schock. Kaum zu begreifen und erst recht nicht zu ertragen.
Besonders Tina fällt es schwer, sich zu vergeben. Sie ist sich sicher: »Einer Paranoikerin wäre das nie passiert.« Ihr eigener Körper hat sie im Stich gelassen, sich gegen sie gewandt. Hätte man Lasses Tod verhindern können? Hätte sie als Mutter etwas spüren müssen? Auf noch mehr ärztliche Kontrollen bestehen sollen?
Auch ohne gläubig zu sein, stellt sich ihr nach einem solchen Trauma die Theodizee-Frage: Warum wir? Welcher Gott lässt das zu? War sie zu emanzipiert und undankbar? Es fällt schwer, ein solches Ereignis nicht als persönliche Bestrafung zu empfinden.
»Niemand hat den Tod gern in seiner Nähe. Uns begleitet er von nun an jeden Tag.«
Zunächst fühlen sich die beiden verwaisten Eltern wie Gefangene, die ihre eigene Wohnung nicht verlassen können. Jeder Handgriff fällt entsetzlich schwer, als würden sie eine schwere Eisenkugel hinter sich herziehen. Mit ironisch-kreativen Ideen versuchen sie, sich ihrer Umwelt wieder zu öffnen, vergeben sich gegenseitig Mut-Sternchen für einen Einkauf oder ein Treffen mit Freunden in »der Außenwelt«. »Heile, heile« ist das Mantra, das sie sich immer wieder zuflüstern, während sie beim Campen und auf Spaziergängen im Wald Abstand zu gewinnen versuchen.
Sowohl der Druck, erneut schwanger zu werden, als auch die Angst vor einer weiteren Fehlgeburt wächst ins Unerträgliche. Während Fritzemann und Tini Wini alle Hände voll mit sich und ihrer Trauerarbeit zu tun haben, verliert Tina den Kontakt zu ihrer eigenen Familie. Die Überforderung der anderen, mit ihr als einem nun »beschädigten« Mitglied der Gesellschaft umzugehen, fühlt sich wie eine zweite Strafe an.
Um nicht durchzudrehen, stürzt die Comiczeichnerin Tina sich in ihre Arbeit – das Ergebnis ist der autobiografische Verarbeitungscomic Das Licht, das Schatten leert. Ein ehrlicher, schonungsloser und sehr persönlicher Bericht über Verlust und Trauer, aber auch voller Zuversicht und Witz. Tina Brenneisen findet im Comic ein Medium, ihren Ängsten und der Wut Ausdruck zu verleihen und sie weniger bedrohlich erscheinen zu lassen. Ein Weg, um nach vorne zu schauen. Ihr auf diesem Weg zu folgen, ist eine bedrückende, aber auch befreiende Erfahrung – ein Leseerlebnis, das sich so schnell nicht abschütteln lässt und die Kraft zu Heilen in sich trägt.
»Die Wahrheit ist, man ist nicht cool und sexy, wenn man dem Tod begegnet. Im Gegenteil, man macht sich in die Hose.«
Bei all der Düsternis und Bedrücktheit scheint immer wieder auch Tina Brenneisens fabelhafter Humor hindurch. So zum Beispiel, wenn sie sich die kanonischen Autoren bildlich als Hosenscheißer vorstellt – »Deshalb haben sich alle großen Schriftsteller zu Tode gesoffen, weil sie ihre Angst ersäufen mussten.« – oder wenn sie gegen den kosmischen Fluch der Wechseljahre wettert, der selbstbestimmte, arbeitende Frauen bestraft.
Das Licht, das Schatten leert ist eine Graphic Novel, die es in sich hat. Auf beeindruckende Weise findet die betroffene Autorin Worte und Bilder für unaussprechlichen Schmerz und führt vor Augen, wie problematisch eine Gesellschaft ist, die die Augen vor dem Tod verschließt. Eine Wucht!
Tina Brenneisen: Das Licht, das Schatten leert. Edition Moderne, 2019.
Dieser Artikel ist in leicht überarbeiteter Form zuerst erschienen bei Wortgelüste.de.
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