From Panels with Love #26: Der Berg der nackten Wahrheiten

Italien, etwa 1900. Gusto Gräser führt ein beschauliches Leben auf dem Monte Verità, dem Berg der Wahrheit. Zwischen Pastinaken und Holzhütten lebt er als Jüngster in einer Gemeinschaft von Vegetabilisten, die Gemüse anbauen, am liebsten nackt herumlaufen und in der pflanzlichen Ernährung das „Mittel der Lösung zur sozialen Frage“ sehen. Als Gusto sich dann aber mit einer Ziege befreundet, die er vor der Verwurstung retten will, muss er runter vom Berg und wohl oder übel in die nahe gelegene Stadt wandern. Der Berg der nackten Wahrheiten, Jan Bachmanns irrwitzigen Comic mit einer Ziege im Mittelpunkt.

Der Berg der nackten Wahrheiten © Foto Karolin Kolbe

Die Gemeinschaft auf dem Monte Verità ist in heller Aufruhr: Trotz strikter Pflanzenernährung wurde eine Käserinde gefunden und außerdem ist das Geld knapp. Denn ganz ohne Geld lässt es sich eben doch nicht leben, auch wenn der Träumer Gusto das nicht so sehen möchte. Während er mit den weltlichen Problemen der Gemeinschaft lieber nichts zu tun haben will und am liebsten „herumgammelt“, bahnt sich eine neue Freundschaft an: Eine Ziege verlässt neugierig ihre Herde, um sich „anzusehen, was ihr Spinner hier oben so treibt.“ Gusto nennt sie kurzerhand Parsival, nach Richard Wagners Oper. Doch es gibt ein Problem: Nicht nur die Kommune findet, dass Gusto das Tier ins nahe gelegene Ascona bringen soll. Auch am Fuß des Berges ist er schon als Ziegendieb bekannt. Und so macht er sich auf den Weg in die Kirche, um den Bewohner*innen einen Handel vorzuschlagen, bei dem er die Ziege kaufen will – natürlich ohne Geld.

© Edition Moderne

Eine (fast) wahre Geschichte

Die Geschichte um den vermeintlichen Ziegendieb Gusto und sein Tier Parsival ist kurzweilig, bunt und beruht in groben Zügen auf tatsächlichen Ereignissen. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es auf dem Berg am Lago Maggiore tatsächlich eine Gemeinschaft aus Lebensreformer*innen, Aussteiger*innen und Künstler*innen, deren Lebensweise eben auch eine vegane Ernährung beinhaltete. In Jan Bachmanns Graphic Novel wird das von der strengen Ida Hofmann, historisch eine der Gründerinnen, bei einem Plenum so erklärt:

Weit sind wir von der Natur abgewichen. Krankheit, Armut und früher Tod sind unausweichliche Folgen dieser Verwirrung geworden, deren Ursprung in der Entfremdung des Menschen vom Tier zu suchen ist. Es verbrenne das Faule, das Tote des Menschen. Gemüse ist das Sperma der Erde!

Das Grundszenario ist demnach an wahre Begebenheiten angelehnt. Die Geschichte um die Ziege Parsifal scheint dann aber doch eher hinzugedichtet zu sein. Jan Bachmanns Graphic Novel folgt auf den 2018 erschienenen Band Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen, bei dem er Erich Mühsam als Protagonisten zeichnet- der übrigens zeitweise ebenfalls Gast aud dem Monte Verità war. Hier überschneiden sich die Bücher und zeigen ein offenbares Interesse von Jan Bachmann.

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Die Ziege als Hauptfigur

Die Ziege Parsival ist in dem Chaos zwischen der strengen Gemeinschaft und dem naiven Gusto, der gern den Schmetterlingen hinterherjagt, die sympathischste Figur – und vielleicht der gar nicht mal so heimliche Hauptcharakter. Als Leser*innen bekommen wir Einblicke in das Gedankenleben der Ziege. In gelben Kästen kommentiert sie das Geschehen, sodass wir den menschlichen Figuren mit diesem Wissen immer etwas überlegen bleiben. Gerade in den Ausführungen des Tieres steckt dann oft der Witz des Comics, zum Beispiel, wenn Gusto die Ziege ausgiebig streichelt:

Gusto: Ja, das gefällt dir!

Ziege Parsival: Nein, das finde ich doof.

Und so ist es oft auch die Ziege, welche die besten Einfälle hat und scheinbar die einzigen vernünftigen Schlüsse zieht. Als Gusto in Ascona angekommen ist, wo er vor der Kirchengemeinde die vermeintlich gestohlene Ziege mit einem Ausdruckstanz zurückkaufen will, behält wenigstens Parsifal einen kühlen Ziegenkopf.

Kritzelei?

Den Zeichnungen haftet etwas Skizzenhaftes an, die Farben sind gedeckt und flächig. Das macht die Figuren durchaus charmant, besonders, weil Jan Bachmann sie in ihren Emotionen abbildet. Da wird geweint, getanzt und geschrien. Ein bisschen Aufmerksamkeit ist aber bei den Lesenden doch gefordert, um auch die vielen Details in den gekritzelt wirkenden Bildern zu sehen. Der Stil schließt auch an den Comic über Erich Mühsam an, die beiden größerformatigen Bände lassen sich wunderbar nebeneinander ins Regal stellen.

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Originell und historisch eingeordnet

Die Idee eine Geschichte aus Ziegensicht zu erzählen, die damit die menschlichen Fehler mehr als einmal ironisch aufdeckt, ist originell. Den skizzenhaften bunten Zeichnungen von Jan Bachmann ist zudem ein Epilog nachgestellt, der 1958 auf dem Monte Verità spielt. Außerdem gibt es als Anhang Anmerkungen, in denen die historischen Tatsachen und Dokumente erklärt werden, was der Geschichte durchaus hilft – denn nicht alles, was im Comic absurd erscheint, hat sich der Autor ausgedacht. Noch ein schöner Satz zum Schluss:

Ich fordere euch alle auf, beim Aufbau des fruktivorischen Weltreiches mitzuhelfen!

Jan Bachmann: Der Berg der nackten Wahrheiten, Edition Moderne, 2019.
Karolin Kolbe
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