45 Comicbiografien von deutschen Parlamenteriar*innen – das ist Simon Schwartz‘ nun erschiene Auftragsarbeit Das Parlament. Noch bis zum 31. August läuft die dazugehörige Ausstellung in der Abgeordnetenlobby im Bundestag.
Es ist Donnerstagabend und in der Abgeordnetenlobby im Bundestag herrscht reges Treiben. In der letzten Stuhlreihe ergattere ich einen letzten Sitzplatz – nach mir die Sinnflut. Es ist offensichtlich: Simon Schwartz‘ Comicbuch Das Parlament wird mit Spannung erwartet.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eröffnet nicht nur die Ausstellung, er hat auch das Vorwort zum Comicbuch geschrieben:
Die couragierten Vorkämpferinnen und markanten Wegbereiter des Parlamentarismus zu kennen, hilft, die Gegenwart zu verstehen.
Schließlich reichen die im Band dargestellten Lebensläufe von Parlamentarier*innen von der Paulskirche 1848 bis zur Wiedervereinigung 1990. Die Auswahl der Lebensläufe hat Simon Schwartz selbst getroffen; es sind Menschen, deren Geschichten ihn fasziniert haben. Seine Auftraggeber*innen, der Kunstbeirat des deutschten Bundestages, haben ihm freie Hand gelassen, erzählt der Autor.
Das Comicbuch
Jede Biografie im Buch ist als Bilderbogen auf einer Seite gestaltet und für jede Person findet Schwartz einen eigenen Stil. Mal erzählt er klassisch in Panels, mal wird der Text in großformatige Wimmelbilder integriert. Das Porträt von CSU-Politikerin Michala Geiger ist in bayrisch-blau-weiß gehalten. Grünen-Poltiker Walter Schwennigers Biografie ist bildlich ganz nah dran an der Jimi Hendrix Experience. Und auch das bekannteste Foto von Schwenninger – bärtig im Alpaka-Pullover neben Helmut Kohl – findet natürlich Einzug in seine Comicbiografie.
Während der Lebenslauf in einem Bogen die rechte Seite füllt, bleibt die linke Seite jeweils frei und ist auf die Farbwelt der Biografie abgestimmt. Eingangs findet sich außerdem ein detailreicher Zeitstrahl zu den Parlamentarier*innen, der dem Band einen Hauch von Geschichtsbuch verleiht. Lehrreich ist es alle mal und die besonderen Lebensläufe, die pointierten Erzählungen und ihre bildliche Ausgestaltung bleiben nachhaltig im Gedächtnis.
In seiner Lesung in der Abgeordnetenlobby stellte Simon Schwartz einige Lebensläufe vor, die besonders in Erinnerung bleiben:
Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821-1902)
Virchow? Den Namen hat man doch schonmal gehört. Nach dem sind doch etliche Gebäude und Straßen benannt. Der hat doch was mit der Charité zu tun. Richtig, aber eben nicht nur.
Als Abgeordneter im Reichstag setzte er sich gegen Kolonialpolitik, Antisemitismus und die Unterdrückung der polnischen Minderheit ein. Seine vielleicht größte Idee? Bereits 1869 spricht er über die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Virchow erscheint als Charakterkopf. Schwartz stützt diesen Eindruck, indem er Originalzitate des Arztes einbindet:
Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.
Jakob Maria Mierscheid (*1. März 1933)
Ein vielsagendes Schmunzeln geht durch die Reihen, als Wolfgang Schäuble schon in seiner Begrüßung darauf hinweist, dass der Band eigentlich nur 44 Biografien enthält. Doch wer ist die Nummer 45?
Jakob Maria Mierscheid ist ein Phantom. Angeblich sitzt er seit 1979 für die SPD im Bundestag, lediglich mit einer kleinen Unterbrechung von 2005 bis 2009. Schwartz schreibt über Mierscheid:
Sein besonderer politischer Einsatz gilt der Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa und anderswo sowie der Untersuchung des Nord-Süd-Gefälles in Deutschland […] Negativ fiel Mierscheid bisher nur 2005 auf, als er „Ulla Schmidt“ als Unwort des Jahres vorschlug.
Wer ist dieser Jakob Mierscheid? Auch Schwartz‘ Biografie liefert hier nur bedingt Antworten.
Schließlich sei Mierscheid bisher nur auffallend wenigen Abgeordneten begegnet und habe sich selbst, als der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert im Bundestag zum 80. Geburtstag gratulierte, entschuldigen lassen. Die Vermutung liegt nahe: Mierscheid könnte eine Erfindung sein. Genau: könnte. Ob Mierscheid nun wirklich einer Bierlaune der SPD-Abgeordneten Peter Würtz und Karl Haehser entsprungen ist, kann mit einem großen Augenzwinkern nicht endgültig geklärt werden.
Fazit
Nicht alle Biografien sind so leichtfüßig und spielerisch-amüsant wie die von Jakob Mierscheid und auch Virchow gehört wohl zu den bekanntesten historischen Persönlichkeiten im Buch. Eine große Stärke des Bandes ist jedoch, dass er auch unbekannte Parlamentarier*innen gleichbedeutend führt und ihnen einen Platz in der Geschichtsschreibung einräumt. So wie der jüngsten Reichstagsabgeordneten, Franziska Kessler (1906-1934). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ging die KPD-Abgeordnete in den Untergrund und wurde von KPD-Genosse Robert Otto denunziert und wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt.
Sie kam in ein Kellerverlies, bekam nur nachts Hofgang und wurde gefoltert […] Ob sie Suizid begangen hat oder ermordet worden ist, bleibt ungeklärt.
Bei allen beeindruckenden, prägenden oder auch amüsanten Charakteren bestechen die Biografien in Verbindung mit der Gestaltung der Bilderbögen. Gemeinsam mit der Ausstattung des Buches ergibt sich so für die vorgestellten Parlamentarier*innen, bekannt oder unbekannt, ein fulminantes Podium.
Die Ausstellung im Bundestag kann noch bis zum 31. August besichtigt werden. Hierfür gelten besondere Anmeldebedingungen, die hier genauer nachzulesen sind.
*Simon Schwartz (Jahrgang 1982) debütierte nach seinem Illustrationsstudium an der HAW Hamburg 2009 mit der Graphic Novel drüben!, die seine Familiengeschichte über die Ausreise aus der DDR aufarbeitet. Neben seinen Graphic Novels fertigt Schwartz auch Comics und Illustrationen, die regelmäßig in Zeitungen und Magazinen erscheinen.
Simon Schwartz: Das Parlament. 45 Leben für die Demokratie. avant-Verlag 2019.
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