Das wilde Leben. In vier Bänden erzählen Clément Oubrerie und Julie Birmant die Lebensgeschichte des jungen Pablo Picasso – seine erste große Liebe, seinen künstlerischen Werdegang, das rauschhafte Leben unter Bohemien.
„Sicher, Picasso ist ein Genie, aber auch wenn ich so viel Opium rauche wie er, ich verstehe seine Malerei einfach nicht.“
Diese Aussage wird in Clément Oubreries und Julie Birmants Pablo dem jungen Maler Karl-Heinz Wiegels in den Mund gelegt. Ob man Picassos Malerei nach der Lektüre seiner vierbändigen Comic-Biographie besser versteht? Vielleicht. Seinen künstlerischen Werdegang mit Sicherheit. Doch wenn sich die Buchdeckel wieder geschlossen haben, bleibt vor allem das Gefühl, man habe den Jahrhundert-Maler fast persönlich gekannt.
Die Erzählung
Dieses Gefühl lässt sich auf einen besonderen Kniff zurückführen: Regisseurin Julie Birmant schafft ein besonderes Szenario für die Erzählsituation der Biografie. Sie lässt Picassos wohl bedeutendste Muse, Fernande Olivier, die Lebensgeschichte ihres Geliebten erzählen. Dabei gelingt der schönen Fernande, wie sie genannt wird, eine besondere Meisterleistung: Sie erzählt die Geschichte ihres talentierten Partners schon ab dessen Eintreffen bei der Weltausstellung in Paris 1900, obwohl sich ihre Wege erst schicksalhaft im Jahr 1904 kreuzen werden. Was wie ein offener Bruch der Logik scheint, wird durch viel Gefühl aufgefangen. Die Erzählerin Fernande erweckt den Eindruck, dass ihre Verbindung mit Picasso so überzeitlich ist, dass sie Anfang und Ende ihrer Beziehung überdauert.
Ein Star in den Kinderschuhen
Doch nicht nur die Erzählerin stellt eine Nähe zum Privatmenschen Picasso her. Als die Erzählung 1900 einsetzt, ist Picasso keiner von den Großen. Er ist vielmehr einer, der noch etwas werden muss. Er ist ein 19-Jähriger Unbekannter mit einem unstillbaren Appetit auf das Leben und in diesen Sog und die Neugier auf alles, was da kommen mag, geraten auch die Lesenden. Denn Paris ist wild und die Kontakte zu den Bohemien lassen nicht lange auf sich warten. Zwischen all den Exzentriker*innen, Widersachern und erotischen Bekanntschaften tritt auch immer wieder das Bild eines fragilen jungen Mannes zu Tage. Einem, der so empfindsam und verletzlich ist, dass er Ängste ausstehen muss. Nicht nur die Angst vor dem Versagen, sondern auch die Angst, einen fatalen Vertrag mit dem personifizierten Tod eingegangen zu sein. Der Tod raffe Menschen in seiner Nähe dahin, weil er als Kind nicht bereit war, die Malerei im Austausch für das Leben seiner Schwester aufzugeben. Diese kindliche Ausdeutung der Theodizee behält sich Pablo auch im Erwachsenenalter und versucht, diesem Fatum zu entrinnen. Und wie so oft ist der Übergang von Genie zu Wahnsinn fließend. Doch Picassos Umfeld gelingt es stets, den Verzweifelten aufzufangen.
In vier Bänden an der Seite des Genies
Während Birmant das Szenario für die Biografie schuf, zeichnete Oubrerie in einer Aquarell-Ästhetik die Stationen des jungen Picasso. Dabei versucht er nicht, für die Erzählung Picassos Stil aufzugreifen. Vielmehr zeigt er ein verträumt-idyllisches Bild vom Leben in der Urbanität und der Provinz in Frankreich und Spanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Picassos Stil verwendet Oubrerie lediglich als Zitat, wenn die Malerei des Spaniers selbst zum bildlichen Thema wird. Der Comic-Zeichner passt jedoch seine eigene Farbsprache der jeweiligen Schaffensphase des Protagonisten an.
Ein großer Hauch Zeitgeist
Scheinbar mühelos gelingt es den Pablo-Schöpfer*innen ein einfühlsames Bild vom Leben des jungen Ausnahmekünstlers zu zeichnen. Das Leben um 1900, die selbstbewusste Avantgarde, das sündige Paris – all das wird vor den Augen der Lesenden zu Bildern, die im Gedächtnis bleiben. Vor allem weil sie einen Menschen zeigen und nicht nur einen Maler. Pablo ist eine überzeugende Künstlerbiografie, die durch ihre besondere Perspektive exklusive Einblicke verspricht. Dabei verbindet sich die mediale Beschaffenheit des Graphic-Novel-Formats mit dem Leben der thematisierten Figuren. Picassos Lebensweg wird mehrfach durch Dichter beeinflusst und auch das Comic-Format steht für eine Kombination aus Text und Bild. Große Maler, große Poeten – sie alle finden ihren Platz in Pablo als Figuren und in Zitaten. Und wer einmal diesen Comic mit größerem Augenmerk auf die Bilder und dann auf den Text liest, der wird sie finden: Zuerst die Braques und Matisses und dann die Verlaines, Rimbauds und Baudelaires.
*Der Zeichner Clément Oubrerie, geboren in Paris, hat inzwischen mehr als 40 Comic-Bücher veröffentlicht und leitet ein 3D-Animationsstudio. Das Szenario für Pablo schuf die Funk-Regisseurin und Theaterdramaturgin Julie Birmant.
Clément Oubrerie und Julie Birmant: Pablo. Aus dem Französischen von Claudia Sandberg. Reprodukt 2018 [zunächst erschienen in vier Einzelbänden 2013-2015].
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