Gorki-Hausregisseur Nurkan Erpulat bringt mit „Streulicht“ ein kraftvolles, überzeugendes Stück über eine junge Frau im industriellen Arbeitermilieu auf die Bühne, die dazugehören will, doch auf ihrem Bildungsweg immer wieder Hürden und Diskriminierung begegnet.v
Ein Mann und zwei Frauen betreten die Bühne. Alle drei tragen die gleichen weißen Turnschuhe, schwarzen Jeans, lilafarbenen 80er-Jahre-Trainingsjacken. Den starren, eindringlichen Blick ins Publikum gerichtet, werfen sie den Zuschauer ohne Umschweife und überflüssiges Tamtam hinein in die Handlung. Gnadenlos lassen sie eine Vielzahl an Fragen auf ihn einprasseln: Wie konnte es dazu kommen? Was ist der Grund? Warum denn nun eigentlich? Erst nach den ersten Fragen kristallisiert sich heraus, was konkret Gegenstand dieses Verhörs ist: welcher Umstand rechtfertigt einen derart untypischen und alles andere als geradlinigen Bildungsweg zwischen Grundschule, Realschule und Gymnasium?
Perspektivlosigkeit und Stillstand
Gemeint ist der Werdegang der namenlosen Protagonistin des Romans „Streulicht“ von Deniz Ohde, der als Grundlage für die Inszenierung von Nurkan Erpulat am Maxim Gorki Theater dient. In einem ebenfalls namen- und gleichsam perspektivlosen Ort in der Nähe eines Industrieparks wächst sie zusammen mit ihren Kindheitsfreund*innen Pikka und Sophia auf – und erfährt von Anfang an, was es heißt, „nicht gut genug“ zu sein. Der Vater ein deutscher Fabrikarbeiter, der noch nie seinen Geburtsort verlassen hat und in steter Begleitung von Alkohol, seiner Kaufsucht und einem Faible für Ramsch in den eigenen vier Wänden versinkt; die Mutter, die sich von ihrer Einwanderung nach Deutschland die Chance auf einen Aufstieg erhofft hat, sich aber stattdessen als diplomatische Ehefrau wiederfindet, die durch eifrige Hausarbeit subtil gegen die Eigenheiten ihres Mannes anzukämpfen versucht, statt das Wort gegen ihn zu erheben. Das vollgestellte, chaotische Elternhaus, das keine Veränderung erlaubt und zum Symbol der Perspektivlosigkeit, des Stillstands im Dorf wird.
Bereits in der Grundschule schlägt der Protagonistin mit voller Wucht die Erkenntnis entgegen, dass sie gnadenlos durch das Netz des Bildungssystems fällt – ein Netz, das nur diejenigen auffängt, die einen „besseren“ Hintergrund haben. „Die Besseren“ – das sind einerseits die Lehrpersonen, die ihre ruhige Art als Dummheit auslegen, statt genau hinzuhören. Das ist andererseits ihre Freundin Sophia, die zwar von außen betrachtet alles andere als reich ist, in den Augen der Protagonistin jedoch immer gewinnt – bessere Noten schreibt, sich Reit- oder Ballettunterricht leisten kann, soziales Ansehen genießt. Im ständigen Vergleich setzt sie beiden einen Heiligenschein auf, stellt sie auf einen Sockel und zieht sich gleichzeitig immer weiter in sich zurück, um selbst möglichst wenig aufzufallen. Jahre später kehrt die Erzählerin in ihren Heimatort zurück und findet dieselbe Trostlosigkeit vor, aus der sie zuvor ausgebrochen ist.
Gesichtslose Schatten
Das schlichte wie eindrucksvolle Bühnenbild von Magda Willi beschränkt sich auf das Nötigste: bestehend aus einer einzigen weißen Wand, die im Laufe des Abends von den drei Schauspieler*innen immer wieder verschoben und in verschiedene Formen gebracht wird, dient sie als Projektionsfläche. Abwechselnd wird sie bespielt von minimalistischen Zeichnungen der Künstlerin Büke Schwarz, die die vollgestopfte Wohnung der Eltern, den trostlosen Industriepark und in einschüchternder Übergröße die Räume und Inhalte des Schulalltags andeuten.
Dann verschwinden die Akteure im Dunkeln und lassen auf der Wand ihre verzerrten, gesichtslosen Schatten zu uns sprechen. Ebenso schlicht wie die Bühne ist die Requisite, die mit auffallend wenigen Gegenständen auskommt – nur vereinzelt werden sie in die Szenen eingestreut: ein Ranzen, eine Schultüte, Hefte, Stifte. Stets in dreifacher Ausführung, denn meistens verkörpern Aysima Ergün, Çiğdem Teke und Wojo van Brouwer alle zur selben Zeit die Protagonistin, lassen ihre Texte auf spielerisch-geschickte Weise ineinander übergehen oder sprechen sie gleichzeitig. Nur gelegentlich bricht eine oder einer aus und übernimmt die Rolle einer anderen Figur. Den vielen Raum, den der Minimalismus von Bühne und Ausstattung freilässt, füllen sie mit Leichtigkeit und überzeugen mit ihrer eindringlichen, kraftvollen Spielweise. Ihre starke Präsenz steht im deutlichen Kontrast zum vorgetragenen Text, der im Zeichen von Zerfall, von Stillstand, von Perspektivlosigkeit steht, und nimmt den gesamten Saal ein. Mit einer enormen Dringlichkeit macht sie den Konflikt spürbar, in dem sich die Hauptfigur befindet. So versucht Erpulats Inszenierung, Stück für Stück eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen zu finden, die die untypische Schullaufbahn der Hauptfigur zu ergründen versuchen. Es gelingt ihm, diesem Vorhaben ganz frei von unnötigen Ausschmückungen nachzugehen, ohne dabei an Spannkraft einzubüßen: die Vitalität der Inszenierung speist sich zu weiten Teilen aus dem gesprochenen Text. Die Wut der Protagonistin wird auf der Bühne mit enormer Kraft kommuniziert und richtet sich gegen all die einschränkenden Strukturen der Institution Schule, für deren Akzentuierung es sich der Regisseur erlaubt, den Romanstoff in verschiedenen Szenen weiterzudenken: einerseits ist da die geloopte Konjugation von englischen Verben, die in einem immer schneller werdenden Stimmengewirr der drei Schauspieler*innen miteinander verschwimmt und einen Einblick in die bloßstellenden Fragen der Lehrpersonen gewährt. An anderer Stelle wird in einer nachgestellten Unterrichtssituation nach der eigenen Identität gefragt – eine Frage, auf die die Protagonistin gleich mehrere Antworten parat hat, die auf beschriebenen Zetteln auf der Bühne verteilt werden: „Außenseiterin“, „Versagerin“, „Freak“. Unzählige Zuschreibungen von außen, mit denen sie fortlaufend konfrontiert wird.
Ziemlich schräg wird es dann auf einmal, wenn Wojo van Brouwer aus heiterem Himmel in einer Art Musicaleinlage anfängt, in altbekannter „Frozen“-Melodie zu besingen wie „egal“ alles sei und dass man nur an sich selbst glauben müsse – ein etwas unbeholfen wirkender Versuch, zwischenzeitlich aus dem bedrückenden Grundton des Abends auszubrechen.
„Die Wut kommt erst, wenn der Roman vorbei ist“
Doch die Dringlichkeit und Wut kehrt schnell zurück und gipfelt schließlich in einem Monolog Aysima Ergüns, der schon fast eine Brandrede ist: ihre Stimme schwillt immer weiter an, bis sie ihre Gedanken zu einem Gefühl von fehlender Akzeptanz, den Verletzungen der Vergangenheit und ihrem verzweifelten Willen nach einem Zugang zu Bildung herausschreit. Ganz anders als im Roman, über den die Autorin Deniz Ohde sagt: „In meiner Vorstellung kommt die Wut erst, wenn der Roman vorbei ist“ und betont, sie habe bewusst im Nachhinein zu wütende Stellen aus dem Roman herausgekürzt.
Erpulat bringt mit „Streulicht“ ein Stück auf die Bühne, das trotz der vielen Erzählebenen, zeitweisen Figurenwechsel und dem bewussten Verzicht darauf, den Romaninhalt in seiner ursprünglichen Chronologie darzustellen, in sich schlüssig und rund ist. Gleichzeitig gelingt es ihm, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Die Dringlichkeit der Bildungsungleichheit hallt nach – und veranlasst uns dazu, die Erzählung unmittelbar in unserer heutigen Realität anzusiedeln. Schlagartig wird uns bewusstgemacht, mit welcher Macht das Schulsystem ganze Lebenswege gestaltet. Benommen und nachdenklich verlassen wir nach eineinhalb Stunden den Saal – und beginnen wohl nicht zum ersten Mal, das angeblich so „durchlässige“ deutsche Schulsystem und seine diskriminierenden Strukturen zu hinterfragen.
Streulicht
nach dem gleichnamigen Roman von Deniz Ohde
Regie: Nurkan Erpulat | Bühnen- und Kostümbild: Magda Willi | Zeichnungen: Büke Schwarz | Dramaturgie: Johannes Kirsten, Yunus Ersoy | Musik: Michael Haves | Choreografie: Modjgan Hashemian
mit Aysima Ergün, Çiğdem Teke, Wojo van Brouwer
Dauer: ca. 100 Minuten (keine Pause)
- Flammendes Aufbegehren gegen Chancenungleichheit - 16. Januar 2022