Eine junge Frau wird verlassen, bricht ihr Jura-Studium ab und geht nach Paris, um hier dem Glück hinterherzujagen. Statt des Glücks findet sie einen prekären Hostessen-Job im Hosenanzug, keine Wohnung und die immergleichen klassistischen Strukturen, aus denen das Entweichen beinahe unmöglich scheint. Marion Messinas scharfer Blick portraitiert Aurélie und die Hürden, die verhindern, dass sie sich vom Arbeiter*innenmilieu der Eltern entfernen kann.
Aurélie ist 18, als sie Alejandro kennenlernt. Sie putzen beide für das gleiche Unternehmen und lernen sich „mit dem Mikrofasertuch in der Hand kennen“.
An jeder Kleinigkeit erkannte man die Arbeitertochter: billiger Nagellack, der nach zwanzig Minuten Arbeit abplatzte, im Sparpack gekaufte Unterhosen aus grober Baumwolle mit kleinen, lächerlichen Motiven, schulterlanges, ganz leicht abgestuftes Haar, der Schnitt der Oberschülerinnen, die mit dem Blankoscheck der Mutter zum ersten Mal zum Friseur gehen, Blusen mit geplatzten Nähten, zu große und zu schlecht geschnittene Jeans, die ihren winzigen, prallen Hintern nicht genug zur Geltung brachten. Aurélie war eine saubere, gut erzogene Frau, die in einer Sozialwohnungssiedlung in der Vorstadt Fontaine aufgewachsen war und das Viertel nie verlassen hatte.
Aurélie ist zu diesem Zeitpunkt eine Jugendliche, die ihr Ziel, das Gymnasium zu beenden erfolgreich hinter sich gebracht hat, sie „hatte sich ausgemalt, wie sie mit Leichtigkeit und Demut die soziale Leiter bis zur Spitze erklomm und der Stolz ihrer Familie wurde.“ Sie wählt Jura, denn da gibt es gute Jobchancen, damit kann sie die Eltern beruhigen, die einem Studium eher kritisch gegenüberstehen. Besser, man blieb an seinem Platz, denken sie. Obwohl Aurélies Einstieg ins Studium schwierig und frustrierend ist, „sprach sie bereits eine andere Sprache als die Eltern.“ Anhand eines weißen Schuhschranks erklärt Aurélie Alejandro das Milieu, aus dem sie stammt. Doch dann trennt er sich von ihr und Aurélie beschließt, in Paris alleine das große Glück zu suchen.
Sehnsuchtsort Großstadt
In Paris muss Aurélie feststellen, dass sie nicht die einzige Gestrandete in dieser großen Stadt ist. Eine Wohnung findet sie nicht, dafür einen Job als Springerinnen-Hostess. Morgens um sechs, wenn sie bereits elegant gekleidet und geschminkt wartet, bekommt sie einen Anruf. Erst dann weiß sie, ob und wo sie heute mit einem „Lächeln in der Stimme“ die Telefondienst-Vertretung einer anderen Empfangsdame übernimmt. Natürlich zum Mindestlohn. Doch der Hosenanzug schafft optisch eben doch einen Unterschied, eine Fassade, die ihr weder zu den Armen noch den Reichen eine Zugehörigkeit verschafft.
Sie fühlte sich mit allen Straßenkehrern, Schweißern, Gebäudereinigern, Toilettenfrauen, Busfahrern und Verteilern von Gratiszeitungen verbunden, die schon arbeiteten, wenn sie aufstand. Der Hosenanzug schuf eine Distanz, sie hätte ihnen nur schwerlich erklären können, dass viele, die so herausgeputzt waren, auch nur Mindestlohn bekam.
Sie beginnt eine Beziehung mit einem Mann, der ihr Unterschlupf gewährt, denn eine eigene Wohnung findet sie nicht. Marion Messina zeichnet scharf die klassistischen Machtstrukturen, denen Aurélie sich nicht entziehen kann, so sehr sie sich auch bemüht. Ist sie am Anfang noch eine Jugendliche mit Zielen und dem Glauben, einen anderen Weg einzuschlagen als ihre Eltern, so sehr wird sie von Paris und den Lebensbedingungen desillusioniert. „Wie ernährt sich Paris“, fragt sie sich, eine Stadt in der Wohnraum begrenzt und unbezahlbar, die präkere Arbeit wiederum ausbeuterisch und unterbezahlt ist. Die Antwort kann sie sich selbst geben. In Paris kann sich nicht jede Person ernähren. Als dann auch noch Alejandro wieder in ihr Leben tritt, flammt die große Liebe dann doch kurz wieder auf und wird schnell begraben unter dem Frust und den Leiden des prekären Alltags.
Auswegsloser Klassismus
Marion Messina schafft mit Aurélie eine starke, authentisch wirkende Protagonistin. Aurélie ist klug, fleißig und reflektiert und ist sich ihrer Herkunft aus einer Arbeiter*innenfamilie bewusst. Schmerzlich muss sie erfahren, dass es ihr fast unmöglich gemacht wird, von dem ihr vorgegebenen Weg abzuweichen, Aurélie steht hier für viele andere. Das schmale Buch ist dicht, prägnant geschrieben, bei den vielen kursiven Begriffen ist man manchmal unsicher, ob sie einzelne Themen betonen, oder gar Ironie einbringen. Während Aurélie auf der Suche nach einem Unerschlupf ist, wirkt das kursive Wort Wohnung beinahe satirisch. Ein starkes, ehrliches Debüt, das man in einem Rutsch verschlingt.
Marion Messina: Fehlstart, Hanser 2020.
- Die Gespenster von Demmin - 22. November 2020
- Streulicht - 4. November 2020
- Bezimena – Für die Namenlosen - 9. August 2020