Bang ist mir aber um die Rolle der Literatur als Idee eines ebenso genauen wie fantasievollen Sprechens und Schreibens – darum, wie viele Menschen es künftig noch interessiert, mit welchen Mitteln und mit welchem
Hallraum ein Satz und ein Gedankengang intoniert sind. Darum, wer noch erkennt, dass es nicht nur ein Informationen verbrauchendes, sondern auch ein interpretierendes, Bedeutungen nachhörendes Lesen
gibt, das, wie die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf mit guten Argumenten behauptet, seine eigenen Gehirnstrukturen ausbildet – wobei sich das Medium und der jeweilige Aggregatszustand eines
Textes dann doch bemerkbar machen.
Jeden Morgen scanne ich unter www.perlentaucher.de, was die Kollegen in den anderen Feuilletons geschrieben haben und neige dazu, es nicht besonders aufregend zu finden. Fünf Minuten später schlage ich die gedruckten Zeitungen auf und entdecke lauter spannende Artikel, als hätte ich auf dem Bildschirm nicht gerade deren Zusammenfassung gelesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Wahrnehmungsunterschied nur mein persönliches Problem ist. Aber ich kann mir vieles nicht vorstellen. Es fällt mir beispielsweise schwer zu glauben, dass nicht jeder auf Anhieb den Unterschied zwischen Elke Heidenreich und Ulrich Greiner als Kritikern oder Frank Schätzing und Botho Strauß als Autoren erkennt. Doch mittlerweile, so schwant mir, befinden wir uns in einer Gemengelage, in der sie alle austauschbare Namen und Signale in einem Spiel der Aufmerksamkeiten sind, das andere mediale Einsätze erfordert als eine gut ausgebildete Urteilskraft. In diesem Kontext nützt Ihnen das beste literaturwissenschaftliche Examen nichts, und Intellektualität ist das Überflüssigste, das Sie mitbringen können.
Worauf also lassen Sie sich ein? Ich kann hier nur erwähnen, worüber ich an anderer Stelle ausführlicher nachgedacht habe: wie die großen Buchhandelsketten die herkömmliche angfolge von Produktion und Distribution umgedreht haben und in die Verlage hineinregieren. Wie die Literatur bei ihrem Versuch, ihr bescheidenes Eckchen auf der Agora zu besetzen, zusehends an den Rand gedrängt wird. Oder wie die Blogosphäre bei ihrem Streben, die Einwegkommunikation der klassischen Medien abzuschaffen, in Gefahr steht, statt einer gesellschaftsdienlichen Demokratisierung eine neue Tyrannei des Trivialen zu etablieren, während sich im Netz – nicht anders als bei den klassischen Medien – ein Hang zur Monopolisierung breit macht.
In einem meiner liebsten Romane, in Robert Walsers „Jakob von Gunten“, erklärt der Titelheld, Zögling des Instituts Benjamenta, einer Schule für angehende Diener, gleich zu Beginn: „Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.“ Darin steckt für mich ein Bild unserer Aussichten im Literaturbetrieb. Falls Sie das Buch kennen, sollte es mir doppelt leicht fallen, Sie davon zu überzeugen, dass darin kein Schrecken liegt und wir vielleicht noch viel radikaler marginalisiert werden müssen, um uns unserer Situation zu vergewissern. „Für so Kleine und Niedrige, wie wir Zöglinge sind, gibt es nichts Komisches“, heißt es bei Walser. „Der Entwürdigte nimmt alles ernst, aber auch leicht, beinahe
frivol.“ Und schließlich predigt Jakobs liebster Mitschüler Kraus: „Wer weiß, vielleicht sind die Verhältnisse in dieser Welt so töricht, dass sie dich in die Luft heben. Dann kannst du in der Unverschämtheit, im Trotz, in der Überhebung und in der lächelnden Trägheit, in Spott und allen möglichen Sorten Unarten ruhig und frech fortfahren und sorgenlos bleiben, was du bist. Dann kannst du dich brüsten bis zum Zersprengen, mit all dem, was du dir hier im Institut Benjamenta nicht hast abgewöhnen wollen. Aber ich hoffe, dass Sorgen und Mühen dich in ihre harte, Untugenden zerschmetternde Schule nehmen. Sieh’, Kraus spricht hart. Und doch meine ich es vielleicht besser mit dir, Bruder Lustig, als die, die dir das Glück in den Schoß und ins offene Maul wünschen würden. Arbeite mehr, wünsche weniger.“
Diese Maxime werden Sie bald auf die Probe stellen können. Denn die faktische Entwertung selbst der stärksten Texte durch die schiere Menge des Flottierenden, lässt sich kaum aufhalten, und dass dabei auch so manches falsche Priestertum geschleift wird, ist ein schwacher Trost. Dieser Entwertung mit einem gewissen Stoizismus standzuhalten, das ist die Herausforderung und eine Aufgabe, die ich nicht nur als Akt individueller psychischer Hygiene auffassen würde, wie ihn der Dichter Joseph Brodsky einmal vor Studenten von Ann Arbor beschrieb. Ich halte ihn auch für das Funktionieren von Gesellschaft und Öffentlichkeit als wichtig: „Jetzt und künftig zahlt es sich für Sie aus, sich darauf zu konzentrieren, sprachlich genau zu sein. Versuchen Sie, sich einen Wortschatz aufzubauen und so damit umzugehen, wie Sie mit Ihrem Konto umgehen. (…) Der Zweck ist, Sie zu befähigen, sich so vollständig und genau wie möglich zu artikulieren, mit einem Wort, Zweck ist Ihr inneres Gleichgewicht. Denn ungenau Begriffenes, nicht richtig Artikuliertes anzuhäufen, kann zu einer Neurose führen. Tagtäglich stößt unserer Psyche eine Menge zu, unsere Ausdrucksweise bleibt jedoch oft dieselbe. Die Artikulierung hinkt hinter der Erfahrung her. Das tut der Psyche nicht gut. Gefühle, Nuancen, Gedanken, Wahrnehmungen, die namenlos bleiben, sich nicht äußern können und unzufrieden mit dem Ungefähren sind, stauen sich im Individuum auf und können in einer psychischen Explosion oder Implosion enden.“
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