Wenn ich aus einem mehr oder weniger festlichen Anlass, dem Beginn eines neuen und dem Ende eines alten Lebensabschnitts, zu Ihnen spreche, erwarten Sie mit einem gewissen Recht, dass ich als Literaturwissenschaftler und Kritiker über so etwas wie Expertise und Erfahrung, kurz: über Autorität verfüge. Ins Praktische übersetzt, das Ihr Studiengang ja anvisiert, heißt das wohl: Sie rechnen damit, dass ich Ihnen Zuversicht vermittle, verrate, wie man Durststrecken übersteht, und Sie ermutige, die in den Labyrinthen des Literaturbetriebs lauernden Minotauren zu besiegen. Ich fürchte nur, ich eigne mich kaum zum Motivationstrainer, und noch mehr fürchte ich, dass dies zum Allerwenigsten an meinem guten Willen liegt.
Persönlich liegt mir nichts ferner, als Sie zu entmutigen. Ich bin, ohne Sie zu kennen, davon überzeugt, dass sich unter Ihnen so viele intelligente, talentierte und ideenreiche junge Menschen befinden wie zu allen Zeiten. Ja es wäre mir leichter ums Herz, wenn Sie das, was mich bewegt, mit mir teilen könnten – ganz abgesehen davon, dass das Gegenteil, Ihre feindselige Ungerührtheit, eine düstere Vision wäre. Stellen Sie sich vor, wie die Erstsemester der Angewandten Literaturwissenschaft in zwanzig Jahren auf Sie blicken werden. Wie lange vorher werden sie schon ihre Karrieremesser gewetzt haben? Wie sehr werden diese Studenten womöglich von Ihnen den Eindruck gewinnen, Sie seien in der Mitte des Lebens saturiert, erschlafft und zynisch geworden? Oder werden wir Alte uns dann gemeinsam gegen die ganz Jungen verschworen haben? Was immer uns verbindet, es lässt sich nicht verhindern, dass wir natur- und altersgemäß unterschiedliche Perspektiven einnehmen: Ich bin drin. Sie sind draußen. Und Sie wollen rein.
Es bleibt uns allen aber keine andere Wahl, als anzunehmen, dass Sie, die Jüngeren, etwas wissen, über das wir, die Älteren, nicht verfügen – oder uns zumindest nicht mehr mit der Ihnen eigenen selbstverständlichen
Intensität aneignen können. Und dass wir, die Älteren, etwas wissen, das Sie, die Jüngeren, nicht wissen – und gar nicht wissen können. Vermutlich reden wir schon, wenn wir das Wort Literatur in den Mund nehmen, nicht von derselben Sache. Vielleicht wäre es sogar ungesund, wenn wir darunter dasselbe verstehen würden. Nicht aufgeben sollten wir aber die Erwartung, uns über unsere unterschiedlichen Sichtweisen verständigen zu können.
Für mich steht außer Frage, dass wir gerade eine schleichende Zeitenwende erleben, die vieles von dem, was ich mir in den ersten zehn Jahren meines journalistischen Daseins (und als Leser lange zuvor) als intellektuellen Grundwertekanon angeeignet habe, in Mitleidenschaft zieht. Die gedruckte Zeitung als zentraler Umschlagplatz gesellschaftlicher Ideen ist aus einer Vielzahl von Ursachen bedroht – und mit ihr das Feuilleton als reflektierende Instanz. Daran sind nicht nur die Anzeigenflaute und die Konkurrenz anderer Medien schuld. Einen Teil der Misere haben sich die Zeitungen selbst zuzuschreiben, indem sie beim Bemühen, das Informationstempo des Internets zu erreichen, in einen sinnlosen Schweinsgalopp verfallen, statt ihre relative Trägheit in einen Vorteil zu verwandeln und dem Anspruch einer gewissen Nachdenklichkeit zu genügen.
Diese Entwicklung liegt sicher mindestens so sehr an Strukturen wie an Personen, wobei diese bekanntlich jene hervorbringen und umgekehrt. Wenn ich angesichts dieser Erkenntnis auch nicht mit letzter Sicherheit auseinander halten kann, was von meinem mulmigen Gefühl Ausdruck meiner individuellen Situation ist und was sich zur zeithistorischen Diagnose eignet, so beanspruche ich doch, von meinen persönlichen Arbeitsbedingungen abstrahieren zu können.
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