Eine entführte Urne auf dem Dach, Tiger an der Wand: LEVI

In Carmen Buttjers Kopf gab es zuerst das Bild eines Jungens mit Urne auf dem Dach, getrennt von den Eltern. Dieses Bild ist zu einem Roman gewachsen: Levi entführt die Urne seiner Mutter und zieht damit in ein Zelt aufs Dach. Carmen Buttjers Debüt LEVI ist stimmungsvoll und bildgewaltig, tragisch und charmant. Kein anderer Ort als der Klunkerkranich über den Häusern Neuköllns hätte besser zu dieser Premierenlesung gepasst.

Ein Dachroman © Foto Karolin Kolbe

Es beginnt mit einer Beerdigung. Levis Mutter ist gestorben, von Tigern gejagt und getötet, da ist sich der Elfjährige sicher. Zurück bleiben er und sein Vater, ein Mann, den Levi im besten Fall als merkwürdig bezeichnet. Das Elternteil, das er weniger vermisst hätte.

Neben mir erkannte ich das Gesicht des Mannes, der mein Vater war. […] Wenn ich an ihn dachte, war das Erste, was mir einfiel, wie merkwürdig er war. Bei meiner Mutter war das anders. Sie war von außen viel kleiner als von innen, sodass ich jedes Mal, wenn sie zu spät kam, darüber nachdachte, ob sie „Wonder Woman“ war, ohne es mir verraten zu haben.

Wenige Sekunden später greift sich Levi die Urne und flieht vor der Beerdigungsgesellschaft.

 

Graphic-Novel im Kopf

Carmen Buttjer und Wolfgang Hörner sprechen über Graphic-Novel im Kopf © Karolin Kolbe

Es war die erste Zeile der Geschichte, die Verleger, Lektor und an diesem Abend Moderator Wolfgang Hörner direkt gepackt hat. „Dabei war die erste Zeile nur ein Wort“, wirft Carmen Buttjer ein. Gelernt hat sie Produktdesign und schon während des Studiums geschrieben- zum Ärger der Professor*innen, die sie gerne ausschließlich in der Werkstatt gesehen hätten. Natürlich hat sie trotzdem weitergemacht. „In meinem Kopf ist die Geschichte zuerst immer ein Graphic-Novel“, erklärt Carmen Buttjer ihren Schreibprozess, sie sieht die Szenen in Bildern vor sich, ehe sie diese aufschreibt. Auch die Dialoge sollen möglichst plastisch und echt klingen, „ich spiele die Rollen“, ergänzt sie. Das tut sie durchaus laut und in Bewegung, und ist deswegen sogar schonmal aus einem Co-Working-Space geworfen worden.

Das Dach als Zuflucht

Levi, der in Carmen Buttjers Worten „kein Kind mehr, noch kein Jugendlicher und erst recht kein Erwachsener“ ist, steigt nach der verpatzten Beerdigung aufs Dach. Die Wohnung, in der Levi bis dahin mit seinen Eltern lebte, liegt wenige Stockwerke darunter. Über den Häusern der Großstadt schlägt er sein Zelt auf und betrachtet die Welt ab jetzt von oben. Zeit verbringt er mit dem Kioskbesitzer Kolja, einer zweiten Hauptfigur. Kolja ist Ex-Kriegsfotograf, der einen Späti gegenüber von Levis Wohnhaus eröffnete und hier seine Lieblingszeitungen aus aller Welt anbietet, die niemand kauft. Eine andere Vertrauensperson ist sein Nachbar Vincent, über den man nicht viel erfährt. Mit ihm geht Levi auf die Jagd nach den Tigern, die seine Mutter töteten.

Über Tiger gibt es einiges zu wissen. Bis vor einigen Monaten hatte ich davon noch keine Ahnung gehabt, doch jetzt war ich elf und kannte alle Geheimnisse der Welt.

Der Junge lebt in einer Welt, die er sich teilweise selbst mit viel Fantasie erschafft, in die er hineingeworfen wurde, obwohl er dafür zu jung ist, so beschreibt es die Autorin. Carmen Buttjer arbeitet mit sprachgewaltigen Bildern und zeigt darin Levis Blick auf den Tod seiner Mutter. Es sind nicht nur die Tiger, die nachts Schatten gegen Hauswände werfen. Es sind Details, die Levi bemerkt und die die Autorin in ihrem Roman bis ins Kleinste beschreibt. „Ich schreibe, bis ich ungefähr an den Kern dessen komme, was ich sagen will“, erklärt Carmen Buttjer. Außerdem habe man beim Schreiben eigentlich zu viel Freiheit, meint sie, denn erstmal sei alles erlaubt. Levi ist ein Kind, das merkt man, aber manchmal spricht er mit seinem Vater fast ein bisschen zu erwachsen. Vielleicht ein Nebeneffekt seiner plötzlichen Selbstständigkeit.

Weltpremiere: Carmen Buttjer liest im Klunkerkranich © Karolin Kolbe

Vater, Sohn und Tod

Levi ist die Geschichte eines Versteckspiels zwischen Vater und Sohn, eines Aufeinanderprallens, vielleicht einer Annäherung, die Geschichte eines klugen Kindes und in jedem Fall über viele Gedanken zum Tod:

Ich lehnte mich gegen die Tischkante, um nicht vom Stuhl zu fallen. Wenn jemand starb, dann war das nicht das Ende. Es war anders, als alle dachten, denn auch wenn meine Mutter nicht mehr da war, schlich sie dennoch durch meine Knochen und selbst wenn ich die Urne vom Dach geschmissen hätte, wäre das nicht das Ende gewesen.

 

Carmen Buttjer: LEVI, Galiani Berlin 2019.
Karolin Kolbe
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