Manche Dinge kommen einfach immer wieder und das trifft neben der Schlaghose glücklicherweise auch auf den Essay zu. Im 16. Jahrhundert machte sich Montaigne innerhalb seiner „Essais“ so allerhand Gedanken zu Themen jeglicher Art. In jüngster Geschichte bedienten sich vor allem Poptheoretiker dieser Textform. Und nach längerem Schattendasein kommt er nun wieder ans Licht.
Der Essay bietet Platz für Ideen, für starke Thesen und die Möglichkeit, Gedanken zu sammeln und zu sortieren. Anwendbar für jedes Thema und vor allem auch für jeden Schreiber. Natürlich gibt es da gute und schlechte Schreiber wie Thesen und somit schlussendlich auch Essays, aber grundsätzlich spielt der fachliche Hintergrund des Autoren keine Rolle. So lange gut argumentiert wird und das bestenfalls für spannende Ideen, sprachlich interessant verpackt und niemals mit absolutem Wahrheitsanspruch, da die Quelle in erster Linie der Autor selbst ist. Montaigne traf den Kern vor bald 450 Jahren in seinem Essay „Über die Essais“:
Ich trage keine Glaubenssätze, sondern unverbindliche Meinungen vor, über die man nachdenken soll; […]
Das Prothese Magazin, welches nun bereits zum zweiten Mal erscheint, zeigt das viele Jahrhunderte nach Montaigne junge Autoren abermals den Essay für sich entdecken. Nach dem Trend der letzten Jahre hin zu kurzen Texten schlimmstenfalls Listen, die schnell konsumierbar sind und besonders online funktionieren, jede Menge Klicks produzieren und sich vermeintlich besonders an junges Lesepublikum wenden, muss es schließlich langsam eine Gegenbewegung geben. Junge Schreibende wie Lesende sehnen sich offenbar nach längeren Texten, die Raum bieten für mehr als nur eine Pointe.
Sogar bis in die Bestsellerlisten schafft es dieses Format. Der riesige und ebenso unerwartete Erfolg des Essays „Empört euch!“ von Stéphane Hessel trat in den Verlagshäusern eine Welle los. Damit ist der Trend auch in größeren Verlagshäusern bereits angekommen. In vielen gibt es ganze Essay Reihen (hier ein schöner litaffin-Artikel dazu), Matthes & Seitz bietet einige Texte auch online an. Der Essay erscheint wieder in großen Auflagen und trifft ins Herz der Leserschaft.
Nun genug über ihre Daseinsberechtigung gesprochen, schauen wir in die neue Ausgabe der Prothese. Erinnerten die Texte in der ersten Ausgabe des Magazins zum Thema „Mangel“ doch noch sehr an Hausarbeiten mit mehr Quellenangaben als steilen Thesen, finden die Autoren diesmal viel besser zum Kern des Essays, „führen ihren Geist Gassi“, wie eine Dozentin uns einmal den Essay beschrieb und damit einen an sie gerichteten, gar nicht nett gemeinten Leserbrief zitierte. Aber ist das Wandeln durch Gedanken, Argumente und Ideen doch vielleicht die Quintessenz des Essays. Gerade deshalb könnte er jetzt in diesen global unruhigen Zeiten wieder so großen Zulauf finden. Im Vorwort der Prothese 2 heißt es:
So ist man auf sich allein gestellt und beobachtet von der hilflosen Privatheit aus das Geschehen. Von der Privatheit aus scheint die Welt sehr weit entfernt zu sein. Das Weltgeschehen ist für den Einzelnen kaum mehr addressierbar.
Die jungen Autoren treten nun aus ihrer Privatheit heraus und machen sich schriftlich und ganz öffentlich Gedanken zu Themen rund um die „Wiederholung“. Der thematische rote Faden auf jeden Fall vorhanden, könnten die Texte weiter gefächert fast nicht sein. Es geht zum Beispiel um Memes, die Propagandasprache Hitlers, Menstruationsblut oder Turnbeutel-tragende Raver. Gerade diese Abwechslung macht beim Lesen unheimlich Spaß und bringt die eigenen Gedanken zum rotieren. Zu den Texten finden sich im Heft Arbeiten verschiedener Künstler – ebenfalls natürlich alles zum Thema Wiederholung.
Die Orientierung vom wissenschaftlichen zum literarischen Essay, die zwischen den ersten zwei Ausgaben der Prothese stattgefunden hat, wird sicherlich noch weitergehen zum nächsten Heft. In manch einem Text der zweiten Ausgabe, könnten sich die Autoren ruhig etwas weiter aus dem Fenster lehnen. Umso mutiger der Essay, desto eher bleibt er beim Leser hängen, desto eher bleiben vor allem die Ideen hängen, bestenfalls so, dass der Leser sie in seine Gespräche mitnimmt und diskutiert. So kann aus Denkanstößen wahre Veränderung werden.
- Ein Plädoyer für den Essay – anlässlich der Prothese 2 - 28. November 2017
- future!publish 2017 – Die Zukunft des Literaturbetriebs - 15. Februar 2017
- Der kleine große Litaffin-Film - 12. Dezember 2016