Der etwas andere Bildungsroman geht in die dritte Runde
Felix Holm ist der Wilhelm Meister des Unterhaltungsromans. Wofür Goethes Aufklärungsheld allerdings nur zwei Bände brauchte, benötigt Matthias Keidtels Holm derer schon drei: seinen Platz im Leben zu finden. Das nimmt aber nicht Wunder, ist der inzwischen Enddreißiger aus Berlin-Rudow doch ein schwerer Fall – und alles andere als aufgeklärt in vielerlei Hinsicht. Er ist pedantisch und rational bis zur Irrationalität, wägt alle seine und nicht zuletzt die Handlungen anderer nach deren Übereinstimmung mit der bundesdeutschen Rechtsordnung ab und ist überhaupt ein weltfremder Zeitgenosse. Er ist das uncoole Abbild des modernen Mannes, der seinen Lesern das entspannte Gefühl gibt, doch mehr drauf zu haben als es ihm eine testosteronstrotzende Männermedienwelt zuweilen suggeriert.
Nach seinen Ausflügen in die Welt der Frauen und ‚Ostberlins‘, in exotische Gefilde also, ist Felix Holm mit 39 Jahren wieder im Basislager angekommen: seinem Kinderzimmer in Rudow. Dem Exotismus und jedem weiteren Abenteuer überdrüssig und doch zugleich auf der Suche nach etwas Bleibendem besucht Holm nun Kaufhausjubiläen und -eröffnungen, um sich auf Pressefotos verewigen zu lassen. Seit kurzem verfügt der notorische Fortschrittsverweigerer zudem über einen eigenen Telefonanschluss, der seine Verbindung in die Welt da draußen sein soll. Bislang riefen allerdings nur seine Tante und seine Mutter unten aus dem Wohnzimmer an. Neuerdings ist Holm aber auch im Besitz der Telefonnummer von Dr. Sylvia Röschmann, Reinhard-Mey-Fan wie er und überhaupt recht interessiert an seiner Nähe, ganz im Gegensatz zu seinen Eltern übrigens, die ihn plötzlich loswerden zu wollen scheinen. Für Holm tun sich damit völlig unbekannte Perspektiven auf, ganz so wie in seinem neuen Job als Altenunterhalter. Der etwas andere Bildungsroman nimmt seinen Lauf. Wie etwa die spontane Erkenntnis im Naturkundemuseum zeigt: „Sie kamen in die Abteilung mit den ausgestopften Tieren. Holm fühlte sich gleich ein wenig heimisch, denn auch er lebte seit Jahrzehnten in angedeuteten Lebensräumen und wurde regelmäßig von seiner Mutter oder Tante besucht.“
Der dritte Teil der Holm-Trilogie, nach „Ein Mann wie Holm“ und „Das Leben geht weiter“, schließt erfolgreich an seine Vorgänger an und ist ein kurzweiliges Stück Unterhaltung, wie man ihn der deutschen Literatur einst nicht zugetraut hatte. Tatsächlich wünschte man sich manchmal ein Mehr an sprachlicher Finesse oder ein Weniger an Vorhersehbarkeit in den Figurenzeichnungen, trotzdem bleibt eines ganz sicher: dies ist der wahrscheinlich ‚unhipste‘ Berlin-Roman unserer Zeit – und dafür sollte man Autor Matthias Keidtel und seinem Geschöpf Holm doch irgendwie auch wieder dankbar sein.
Matthias Keidtel
Geht doch!
Manhattan Verlag, 2010
384 Seiten, Klappbroschur
14, 95 Euro
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