Ein bisschen viel „Freiraum“ vielleicht

Svenja Gräfen hat mit Freiraum einen Roman über ein alternatives Lebenskonzept geschrieben, eine Lösung für Großstädter*innen, die keine Lust mehr auf Wohnungsnot, Platzmangel und schlecht bezahlte Jobs haben. Doch das Hausprojekt gerät ins Straucheln. Die Romanfiguren machmal auch.

Foto © Karolin Kolbe

Es fängt so gut an: Vela und Maren, ein verliebtes Paar mit Kinderwunsch in einer viel zu kleinen Wohnung. Beide um die dreißig, beide mit Jobwunsch in einer Branche, in der fast keine*r Arbeit findet. Vela möchte Journalistin sein, arbeitet bisher aber nachts in der Redaktion einer großen Zeitung und moderiert Kommentare der Online-Ausgabe. Maren hat eine abgebrochene Tanzausbildung hinter sich und treibt sich im Glitzerjacket weiter in der Szene rum, in der alle immer auf der Suche nach einem neuen Projekt sind.

Kennengelernt haben sie sich vor ein paar Jahren und jetzt möchten sie ein Kind. Doch dafür braucht es nicht nur eine teure Spermaspende aus Dänemark, sondern auch mehr Platz. Da ergibt sich eine Lösung, mit der beide nicht gerechnet haben: in dem Hausprojekt von Marens Schwester Jo wird ein Zimmer frei.

Es ist ein Beschnuppern, eine Art Casting. Kann man das so nennen? Ein Kennenlernen. Das Haus ist ein Projekt, ein Hausprojekt, in dem Marens Schwester wohnt, zusammen mit Freund und Kind. […] Deswegen sind sie nun hier in der Küche.

Platz für Maren und Vela mit Garten und vielen Menschen mitten auf dem Land neben der großen Stadt. Vela ist nicht gleich überzeugt, das wird im Verlauf des Romans deutlich, und ihre Intuition, so scheint es, bestätigt sich. Die beiden ziehen in eine Struktur mit sechs anderen Erwachsenen und einem Kind ein.

Diese Hausgemeinschaft lebt alles, was das hippe Alternativleben hergibt: das Geld der Lohnarbeit wird in einen Topf geworfen, es ist egal, wer wie viel verdient, natürlich sind sie antikapitalistisch eingestellt. Alle leisten einen gleichen Anteil an Putz- und Carearbeit. Alle kümmern sich um Eli, das Kind. Manche Beziehungen sind offen, die Menschen einander zugewandt, sie sind rassismussensibel, gegessen wir viel Gemüse und im Sommer richten sie ein großes Gartenfest für alle Nachbar*innen aus. Das Leben scheint perfekt, und so beschreiben das die Mitbewohner*innen auch vermeintlich bescheiden. Trotzdem wird bei jedem Satz deutlich, wie stolz sie auf ihr Lebenskonzept fernab von Kapitalismus und verkorksten Beziehungen sind. Theo, der den Welthunger durch den Anbau essbarer Eicheln stillen will, bestont das besonders gerne.

 

Svenja Gräfen gelingt vieles

Was gut gelingt, ist die Normalisierung von Gender in der Sprache. Nie gibt es Freunde, immer sind es Freundinnen und Freunde, da ist Svenja Gräfen konsequent. Auch wenn es anfangs vielleicht die Lesegewohnheit brechen kann, zeigt der Roman, wie gut das literarisch funktioniert. Ein Buch, das man für Zweifler*innen von genderbewusster Sprache in der Literatur als Gegenbeweis im Hinterkopf behalten kann. Gleichermaßen normalisiert und nicht weiter kommentiert werden unterschiedliche queere oder offene Beziehungen, was ebenfalls literarisch gelingt und das Leben vieler junger Menschen widerspiegelt. Der Roman bemüht sich um Korrektheit, sprachlichen Einklang damit und zeigt, wie es gehen kann. Das ist gut.

Genauso gut ist es, wie Svenja Gräfen beschreibt, dass hinter der Fassade der intellektuellen und alternativen Gemeischaft trotz Plena- die so nicht genannt werden sollen- und emotionalem Austausch viel schief laufen kann. Denn das ist eine Tücke an dem Konzept: Beziehungen und Affären sollen locker, sollen offen sein. Doch das ist nicht für alle so einfach. Und so gibt es nicht nur viele unausgeprochene und verheimlichte Beziehungsverstrickungen, sondern auch handfeste Lügen, die über eine kleine Ungeklärtheiten hinausgehen.

 

Maren ist lieber Glitzermaren

Vela ist es, die das nach und nach durchschaut, hinterfragt und sich nicht immer wohl fühlt in der perfekten WG-Familie. Sie erkennt die unsichtbaren Fäden, die zwischen einigen Mitbewohner*innen gespannt sind und erfährt oft unfreiwillig und unter Alkoholeinfluss, was in der Vergangenheit so passierte und bis heute verschwiegen wird. Sie liebt Maren, doch mehr als einmal kann man sich als Leser*in fragen, wieso Vela sich nicht überwindet und wenigstens Maren mehr von ihren Zweifeln erzählt. Als sie das nämlich endlich tut, kommt das für Maren aus dem nichts und belastet nun auch noch die Beziehungen der beiden. Und Vela hat keine Lust mehr, ihre ehrlichen Gedanken mit der Gemeinschaft zu teilen.

Seht ihr, genau das ist es, sagt Theo. Er lehnt sich zurück. […] Und Vela, was ist bei dir überhaupt los? Er schaut sie an. Vela, verunsicher, weiß nicht: Soll das jetzt schon eine Runde sein, der Austausch? Ist sie schon an der Reihe zu erzählen, wie es um sie steht? Vor ihr der halb volle Teller, um sie weiterhin Kauen, Gabeln, die zum Mund geführt werden. Sie sagt: Ich würde gerne erst essen.

Bei den Figuren gerät der Roman ab und an ins Straucheln. Vielleicht sind es einfach zu viele. Über die Mitbewohnerinnen Nat und Ellen erfahren wir zum Beispiel wenig, sodass sich die Hausgemeinchaftsdynamik- das Thema des Romans- nicht ganz greifen lässt. Manchmal kategorisiert Vela die Menschen und ihre Launen so schnell, dass die Leser*innen nicht dazu kommen, sich ein eigenes Bild zu machen. Für Vela gibt es Ausgehmaren und Ausgehjo, Tanzmaren und Zweifelvela. Auch die Beziehung von Vela und Maren erschließt sich nicht immer. Vela, die Maren bewundert, Maren, die in süßer Piepsstimme mit Vela spricht und sie bei Tanzveranstaltungen dann doch links liegen lässt. Und ehrlich sind sie auch nicht immer miteinander. Die durchweg fehlenden Anführungszeichen in der wörtlichen Rede bauen noch mehr Distanz zu den Figuren auf, das nimmt Dynamik aus den Dialogen.

 

Zum Ende Schwung

Im weiteren Verlauf nimmt Freiraum Schwung auf. Endlich ein Streit, eine Auseinandersetzung, auf die nach langem Brodeln gewartet wurde. Spätestens jetzt soldidarisiert man sich mit Vela, möchte alle anderen schütteln und rufen: Hört ihr zu, hört auf Vela! Es entsteht mehr Spannung und jetzt zwingt das Buch zum Weiterlesen, ganz schnell, bis es durch ist.

Svenja Gräfens Roman ist ein gutes Beispiel für die sprachliche Normalisierung von Gender und dem unaufgeregten Schildern unkonventioneller Lebenskonzepte, auch wenn die Figuren gerne schärfer gezeichnet werden dürfen.

Maren und Vela wollten das Glück finden. Gefunden haben sie den Versuch eines alternativen Wohnprojektes, das zu sehr an den Verstrickungen des kapitalistischen Großstadtlebens und den heimlichen Geschichten der Vergangenheit festhängt.

Karolin Kolbe
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