Wirtschaftskrisen sind ein Fluch. In der Literatur können Stillstand und Umbruch jedoch zu neuen Impulsen führen: Seit dem Staatsbankrott wird Argentiniens junge Literatur als neue Avantgarde eines experimentellen Erzählens gefeiert.
Die junge argentinische Literatur boomt, wie lange nicht mehr. Ihr zynisch-nüchterner Tonfall, ihre radikale Schreibweise und moderne Ästhetik fruchtete ausgerechnet auf dem Boden von Turbokapitalismus und Rezession. Jahrelang weigerten sich die etablierten Verlagshäuser, einheimische Autoren zu verlegen. Zu unsicher war die ökonomische Situation, zu unrentabel schien das Geschäft. Als die Wirtschaftskrise um die Jahrtausendwende eskalierte, nahmen die Nachwuchsautoren vom Río de la Plata das Verlegen schließlich selbst in die Hand.
In den Vororten von Buenos Aires gründeten sie kleine Independet-Verlage, veröffentlichten auf Blogs und nutzten soziale Medien. Als immer weniger verlegt wurde, begann das Feuilleton seine Spalten mit der Besprechung junger Underground-Schriftsteller zu füllen. Autoren, die zuvor im Internet, in Kartonbüchern, Fanzines und Literaturzeitschriften publiziert hatten, wurden aus dem Nischendasein in die breite Öffentlichkeit katapultiert. So feierte Samanta Schweblin ihren Durchbruch mit dem Erzählband El núcleo del Disturbio auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Im Interview mit dem Tagesspiegel erinnert sie sich:
Da stand ich also, 22, eine total unbekannte Autorin, dazu noch eine Frau, in Argentinien ist die Literatur eher von Männern dominiert. Alles sprach gegen mich. Es waren furchtbare Tage, in Buenos Aires gab es gewalttätige Proteste, 25 Menschen starben.
Gewalt und Unsicherheit, seit jeher ein zentrales Thema in dem von Staatsterror und Unterdrückung gebeuteltem Land, prägen auch die Literatur der Rezessionsjahre: Die Texte erzählen von den rasanten Umbrüchen, befassen sich mit sozialen und politischen Missständen, mit Gewalt und Ausbeutung. Doch anstatt ihr Land zu beweinen, rühren die Nachwuchsautoren an offenen Wunden und üben Kritik. So zeigt Washington Cucurto in seiner Erzählung Der Mann mit dem blauen Helm die Abgründe einer anonymen Konsumgesellschaft auf:
Das Regal. Es gibt uns eine Heimat. Es gibt Regale in allen Größen und mit allen Dingen, die ihr euch vorstellen könnt und noch nie gesehen habt, zum Beispiel die neuen Badeentchen, die es zur Batterie Everready im Angebot dazu gibt. Regale über Regale über Regale, seht sie euch an, meine Töchter, Schwestern, Cousinen, am liebsten wäre ich ein Roboter mit einem Eisenpimmel, um es ihnen allen zu besorgen, das ist, was ihnen fehlt, um besser als der beste Revuestar zu werden.
Cucurto, in Quilmes, einem Vorort von Buenos Aires geboren, stammt selbst aus einem Armenviertel in der Provinz und musste bereits als Kind im Geschäft seines Vaters aushelfen. Heute wird er von Medien, Literaturhäusern und Studentenzirkeln als avantgardistischer Schriftsteller gefeiert. Cucurto hebt das jedoch wenig an. Er will die argentinische Literatur von ihrem elitären Image befreien: Als sich die Zahl der Müllsammler auf den Straßen vervielfachte, gründete er zusammen mit dem Dichter Fabián Casas in La Boca, einem Einwanderungsviertel in Buenos Aires, die unabhängige Verlagskooperative Eloisa Cartonera, die Bücher aus Pappresten herstellt. Seine Texte schreibt er nach eigenen Aussagen am liebsten bei McDonalds.
Auch wenn sich die junge Literatur mit ihrer enormen Bandbreite hartnäckig gegen eine einheitliche Linie zu behaupten weiß, eines scheint den Autoren gemeinsam: Ihre Texte nehmen sich selbst nicht so ernst, sind locker und schnell aufgeschrieben, kunstvoll unprätentiös, voller Slang und Lokalkolorit. Damit grenzt sich die neue Generation von Übervätern wie Jorge Luis Borges oder Adolfo Bioy Casares ab, die Umgangssprache in der Literatur verpönten. Ariel Magnus schreibt in seinem Roman Ein Chinese auf dem Fahrrad:
Da halten mich plötzlich die Bullen an, auf ne üble Tour, ich frag die, hey, was geht denn hier ab und die werfen mich auf die Motorhaube vom Batmobil, hey, mal halblang, sag ich zu dem Typ, ich kann dir das erklären, als ob der meine Tussi wär, aber die, halt die Schnauze, du Scheißchinese, sonst machen wir dir Kommunismus unterm Arsch.
In ähnlicher Weise offenbart auch Lucía Puenzos Roman Das Fischkind, was man in den noblen Vierteln von Buenos Aires gerne zu verschweigen sucht: Das tiefverwurzelte Zweiklassendenken und den latent aggressiven Rassismus eines traditionellen Einwanderungslandes, der sich vor allem gegen die neuen Migranten aus China und ärmeren südamerikanischen Ländern wie Paraguay oder Bolivien richtet. Viele Autoren, darunter Felix Bruzzone in seinem Erzählband 76, begeben sich auf Spurensuche in die Zeit der Militärdiktatur, um den Nährboden von Gewalt, Straflosigkeit und Korruption auszumachen.
Natürlich blieben die rasanten Entwicklungen der letzten Jahre nicht ohne Einfluss auf die Texte selbst. Die Form der Kurzgeschichte, die in Argentinien wie keine andere literarische Gattung Tradition hat, potenzierte sich, vermischte sich mit anderen Genres – und erschuf sie neu: Während die Mikroerzählung hierzulande immer noch eine Randerscheinung darstellt, wurde sie in Argentinien längst in den Reigen der etablierten Textsorten aufgenommen. In ihrer literarischen Verdichtung liefert sie präzise Schnappschüsse die, wie in Ildiko Nassrs Mikroerzählung mama rettet mich immer, mitunter aus nur wenigen Zeilen bestehen:
-Mama, mach mir das Mädchen hier zurecht, bittet er, den Arm seiner Freundin in der einen und das blutige Messer in der anderen Hand.
Während die Texte der jungen Schriftstellergeneration in Argentinien seit Jahren für Furore sorgen, brauchte es hierzulande erst den argentinischen Buchmesseschwerpunkt 2010, um die kulturschaffende Kraft einer neuen Schriftstellergeneration mit Anthologien wie Asado Verbal oder Die Nacht des Kometen nach Europa zu transportieren. Bleibt zu hoffen, dass sich auch in Zukunft das ein oder andere Werk des neuen argentinischen Erzählkosmos‘ hierher verirrt.
Übersetzungen ins Deutsche
Félix Buzzone: 76. Erzählungen. Berenberg Verlag, 2010. 160 Seiten.
Rike Bolte, Timo Berger (Hg.): Asado verbal. Junge argentinische Literatur. Erzählungen. Wagenbach Verlag, 2010. 244 Seiten.
Fabián Casas: Mitten in der Nacht. Luxbooks, 2010. 140 Seiten.
Marion Dick (Hg.): Die Nacht des Kometen. Argentinische Autorinnen der Gegenwart. Erzählungen. Edition 8, 2010. 160 Seiten.
Ariel Magnus: Ein Chinese auf dem Fahrrad. Roman, Kiepenheuer & Witsch, 2010. 256 Seiten.
Lucía Puenzos: Das Fischkind. Roman. Wagenbach, 2009. 156 Seiten.
Semanta Schweblin: Die Wahrheit über die Zukunft. Erzählungen. Suhrkamp, 2010. 130 Seiten.
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