Um Benjamin von Stuckrad-Barres neuestes Buch „Noch wach?“ wurde einiger Wirbel veranstaltet. Besprechungen in allen großen und kleinen Zeitungen, Buchpremiere im Berliner Ensemble, und alle Welt augenscheinlich ganz aus dem Häuschen wegen des heißesten Schlüsselromans seit „Mephisto“. Alle Welt? Nicht ganz. Unser Autor hat so seine Probleme mit dem Stucki-Hype – und den damit einhergehenden Medien-Mechanismen.
Ein Kommentar von Tom Luca Adams
Ende April 2023, Blick auf Berlin. Nicht aus Berlin, denn dort lebt es sich vermutlich wie immer – man nimmt sich am Späti ein Bier und läuft durch Frühlingsregen oder -sonne oder -nacht und blau wird zu rot und schwarz zu blau. Stattdessen der Blick auf Berlin, durch den Nachrichtenwirbel der deutschen Tagespresse. Zwei Themen stechen hervor: Die Blockaden der letzten Generation und die Veröffentlichung des Romans Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre. Ist da wirklich mal wieder ein Schriftsteller, gar Literatur im Schaufenster der Öffentlichkeit? Und wieso geht die Ablehnung der Proteste der Letzten Generation mit einer Hinwendung zu vermeintlich aufklärerischer Pop-Literatur einher? Fast könnte man meinen, der bürgerlich-konservative Mainstream wasche sein Gewissen rein, ohne die eigene Position hinterfragen zu müssen.
1972 veröffentlichte der Spiegel einen Text von Heinrich Böll, indem dieser die Bild-Zeitung sowie die deutsche Politik anklagte: „Millionen, für die Bild die einzige Informationsquelle ist, werden auf diese Weise mit gefälschten Informationen versorgt. Ich kann nicht begreifen, dass irgendein Politiker einem solchen Blatt noch Interviews gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck.“ Im selben Jahr erhielt Böll den Literaturnobelpreis. Zwei Jahre später erschien dann Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Während bei Noch wach? auf die Fiktionalität der Erzählung hingewiesen wird, informierte man damals die Leser: „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind die Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen und immer noch bestimmt die Bild und damit der Springer-Verlag das Weltbild von Millionen Menschen, vor allem finanzschwachen und bildungsfernen Milieus. Radikal kritische Stimmen wie jene Bölls finden sich dagegen nicht. Und wenn jemand wie Jürgen Habermas mal gegen reine militärische Aufrüstung argumentiert, wird er auch von Nicht-Springermedien missachtet oder bekämpft. Von genau jenen (FAZ, Spiegel, ZDF) im Übrigen, die nun so groß über Noch wach? berichten. Das leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass jeder Beifall, jedes Lachen und jeder Fingerzeig auf andere die Aufarbeitung der eigenen Macht-, d.h. Gewaltstrukturen überlagert. Es hat sich intellektuell wenig getan in diesem halben Jahrhundert und die sich häufig als politisch links, progressiv und kunstinteressiert inszenierende Kulturbubble offenbart durch Stuckrad-Barres Auftritt im Berliner Ensemble wieder einmal, wie gemütlich sie es sich im Mainstream eingerichtet hat.
Das systematische Problem der Medien-Szene
Nach Büchern wie Udo Fröhliche oder zuletzt einem Geschwätz-Duett mit Martin Suter war von diesem Autor vielleicht nichts anderes zu erwarten. Und doch, man muss das wirklich noch einmal festhalten: Stuckrad-Barre, 48, zehn Jahre für Springer tätig, mit einer über zwanzig Jahre jüngeren Partnerin, wird in vielen Medien als MeToo-Literat gehypt. Er ist, wenn nicht Täter, Nutznießer des Systems, der sich die Maske der politischen Korrektheit anzieht und mit dem Finger auf andere zeigt. Selbst führt er kräftig Eigen-PR auf Instagram, wobei er eigentlich nur die unkritische Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sendungen teilen muss. Zum Beispiel ein Video der ZDF-Sendung moma, in der nicht immer derart unreflektierte Promis wie Luisa Neaubauer („ein sehr beeindruckendes Werk“) oder Sven Regener („Es gibt schlimmere Sachen, um die man einen Wirbel machen könnte, als Bücher“) nach der Premierenlesung zu Wort kommen. Unter einem früheren Beitrag kommentiert Stuckrad-Barres Bekannte Julia Stoschek, deren vom Nazi-Opa finanzierte Collection in Mitte die Berliner Hipster so für ihre avantgarde video aesthetics schätzen: „Ich bin bei der Premiere dabei❤️“. Stoschek hat mit Springer-Chef Matthias Döpfner, dem realen Vorbild einer der Hauptfiguren in Noch wach?, ein Kind. Hier zeigen sich die unzähligen strukturellen Machtverbindungen in der deutschen Medienelite ganz unverstellt.
Den Schaden Instagrams, das von einem Milliardenkonzern gesteuert wird und Millionen junger Frauen und Männer in Abhängigkeit und Depression führt, in einem einzigen Augenblick auch nur zu ansatzweise zu reflektieren, fällt weder den Künstlern noch den Medienschaffenden ein. Diesen Marketingfaschismus unterstützt und befördert Stuckrad-Barre, da ändert auch eine mögliche Qualität des Buches nichts, allein der Blick auf die Spiegeltitelseite genügt, die er selbst wiederum auf Instagram teilt. Es ist ein Spiegel, der nicht mehr so weit von der Bild entfernt ist, wie er es vielleicht 1972 war und vor seinem Relotius-Lügengeschichtenskandal zum Beispiel Popliterat-Kollege Christian Kracht idiotischerweise als Vordenker der neuen Rechten bezeichnete. Von der Dichtung-und-Wahrheit-Dialektik hat man auch zweihundert Jahre nach Goethe noch keinen blassen Schimmer und fragt Stuckrad-Barre allen Ernstes „wie viel Wahrheit“ in seinem Buch stecke. Als ob Postmoderne und Popliteratur nicht über die Albernheit dieser Frage aufgeklärt hätten. Denn was soll die Antwort sein? Zehn Prozent, neunzig Prozent? Und was sagt das über das Thema oder gar die Literatur aus?
Idiotie ist dann am schlimmsten, wenn man das Talent (die glücklichen Umstände) hätte, nicht idiotisch zu agieren. Jemand der schreiben kann, damit auch noch ordentlich Geld verdient, sich in der style-over-substance-art-scene von Berlin aufhält und gleichzeitig mit dem mächtigsten Presseblatt in engem Kontakt steht, könnte wirklich einen Axthieb ästhetischer Radikalität in den deutschen Literaturbetrieb schlagen. Stuckrad-Barre hätte die Sprache: auf den Punkt gebracht, schnörkellos, witzig und ästhetisch. Stattdessen reiht er sich in die Ödnis der autofiktionalen Gegenwart ein, er scheint keinerlei literarische Idee mehr zu haben. Doch unabhängig von Buch und Schriftsteller, es offenbart sich vielmehr erneut ein systematisches Problem. Die Twitter-Printmedien-Politiker-Journalisten-Szene erfindet weiter schwarz und weiß, um darin die Welt einzuteilen, ohne jegliche Reflexion ihrer eigenen Privilegien. Sie wird flankiert von der scheinbar progressiven Theaterszene, die bereits eine Adaption von Noch wach? erarbeitet hat und die Premierenlesung des Buches mit all der Bourgeoisie unserer Zeit im Gästesaal füllt. Es ist eine Szene, die sich nie wirklich mit Macht und Gewalt auseinandersetzt, nie wirklich mit Armut befasst, nie wirklich ästhetische Umbrüche erfährt oder erfahrbar macht. Da dürfen dann alle mal ihr Gesicht in die Kamera der Presse halten und vorbei ist es mit der häufig behaupteten Auflehnung gegen den Status Quo.
Woke Mainstreammänner statt Gesellschaftskritik
Stuckrad-Barre, ein mittelalter Mann im Anzug, nimmt die Rolle des Welterklärers ein und sieht, von all den Presse-Blitzlichtern geblendet, seine eigene Hypokrisie und Irrelevanz nicht mehr. Er erzählt in patriarchaler Manier, Frauen seien immer junge Volontärinnen, völlig geist- und wehrlos, Wachs in den Händen der absolut bösen Männer. Sex, Erotik, die Gründe, wieso Frauen überhaupt so agieren (müssen), wie sie es tun und wieso mächtige Männer sich so peinlich benehmen und nachts an Volontärinnen „Noch wach?“ schreiben, wird in der öffentlichen Debatte in keiner Sekunde thematisiert. Diese Unterkomplexität ist ein großes Problem. Als hätte es keine Frauenbewegung, keine sexuelle Revolution gegeben. Als hätten Frauen nicht dafür gekämpft, außerhalb der Ehe Sex haben zu dürfen und ihr Begehren zu befriedigen sowie ihre Erotik einzusetzen. Man muss bei jeder Stimme genau hinhören, ob sich hinter der berechtigten Systemkritik nicht ein konservativer Backlash verbirgt. Stuckrad-Barre wäre nicht der erste, der die Radikalität der Jugend gegen den Konformismus des Alters eintauscht. Psychologie, Soziologie, Gender Studies – nichts wird beachtet. Stattdessen klatscht sich das Bürgertum genüsslich in die Hände, „Stucki“ spielt den Clown auf der Bühne, der die Hand der Bild-Zeitung, die ihn fütterte, nicht einmal beißt, sondern nur auf sie zeigt, um sich durch die gewonnene Reichweite auf Instagram vermarkten zu können.
Bei Fragen sexuellen Machtmissbrauchs wird meist auf das System hinter den Einzelfällen hingewiesen, das Übel läge in den Strukturen. Das ist zugleich richtig und falsch. Richtig, weil hinter den Einzelfällen natürlich kulturelle Ursachen zu finden sind, ein Zusammenspiel unterschiedlichster psychischer wie physischer Strukturen, die zu den jeweiligen Situationen geführt haben. Falsch aber, weil es zuletzt immer einzelne, menschliche Entscheidungen sind, die von autonomen Individuen getroffen werden. Festhalten kann man, dass Entwicklungen des Systems, die sich den Subjekten entziehen, diese eingrenzen. Ihre Verantwortung darf man ihnen deshalb nicht nehmen, das wäre eine autoritäre Gegenreaktion. Im Übrigen findet sich bei Rechtspopulisten ein vergleichbares Argumentationsmuster, wenn diese sexuelle Übergriffe durch Flüchtlinge eben nicht als Einzelfälle, sondern als systematisches Unheil bezeichnen. Doch in beiden Fällen gibt es keine große Verschwörung, stattdessen sind die Fehler bei einzelnen Menschen zu finden, die zugleich durch die Ungerechtigkeit des Systems in dem sie leben, multipliziert werden.
In der Berichterstattung findet sich über diese Komplexität kein Wort. Die intellektuelle Bankrotterklärung des ganzen Wirbels kann auch an Interviews abgelesen werden. Im NDR überbieten sich Moderatorin Julia Westlake und Thalia-Regisseur Christopher Rüping: „[Westlake:] Falls es Ihnen möglich ist, die letzte Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten: Wird dieser Roman herausragend besprochen werden? – [Rüping:] Ich muss leider antworten mit: sowohl als auch. Ich kann mir vorstellen, dass es Hymnen geben wird und dass es massiven Gegenwind geben wird.“ Was soll das? Welche Erkenntnis wird hier vermittelt? Welchen Anspruch an gesellschaftskritische Literatur haben die Gesprächspartner?
Im Noch wach?-Prozedere steckt eine enorme moralische Verwerflichkeit. Hier spricht einer, der nicht Opfer ist, aber weder kritisiert er sich selbst noch feiert er das Schöne (das Privileg der Nichtopfer). Die PR legte den Feuilletonisten das Wort „Sittengemälde“ in den Mund, um den Roman zu beschreiben. Ein solches ist vielmehr rund um die Veröffentlichung zu beobachten. Wenn selbst die taz behauptet „Halbdeutschland fragt sich gerade, was da los ist bei Springer“, dann kann von einer gesunden Selbstwahrnehmung des deutschen Medienbetriebs keine Rede mehr sein. Das Schlimmste aber ist, dass Stuckrad-Barre scheinbar die Opfer sprechen lässt (in einer patriarchalen Geste als Figuren in seinem Roman), stattdessen aber ihre Stimmen nutzt, um sich selbst ins Scheinwerferlicht zu rücken. Es ist kein neuer Gestus in der deutschen Medienbubble, dass Mainstreammänner sich als woke inszenieren. Jan Böhmermann zum Beispiel bezeichnete Noch wach? als „hervorragendes Buch“ und ist bekannt dafür, die Geschichten anderer nutzen, um opportunistisch öffentliches Ansehen zu erstreben. Auch er agiert häufig als Außenstehender, der Kontakte ins Innere eines Skandals nutzt, um selbst moralisch überlegen dazustehen. Ohne dabei aber tatsächlich in die Thematik einzutauchen und den Betroffenen Gehör zu verschaffen, auch wenn genau das jedes Mal vorgegeben wird. Es ist exakt jenes Muster, das bei Stuckrad-Barre vorzufinden ist.
Literatur als Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe
Die Popliteratur mag weltfremd und arrogant und von weißen, reichen Männern geprägt gewesen sein, aber zumindest gab sie nie vor etwas anderes zu sein. Unsere Gegenwart wird nun von einer Kulturelite geprägt, die von Kunst und Politik erzählt und beides dabei doch nur als Möglichkeit der Selbstinszenierung begreift. Natürlich wurde das „Mansplaining“ (Katharina Körting im Freitag) Stuckrad-Barres schon erkannt und kritisiert. Iris Radischs Kritik in der Zeit (als Reaktion auf die Lobpreisung Volker Weidemanns im selben Medium) zielt ebenfalls auf die Inszenierung der Frauenfiguren ab, stört sich aber letztlich daran, dass es „ein neuer bedeutender Roman eines bedeutenden Mannes über noch bedeutendere Männer“ sei. Doch wieso sieht sie den Roman überhaupt als bedeutend an? Was macht einen Roman bedeutend? Ist die Bedeutung vom Geschlecht abhängig? Was nützen all die feministischen Listen weiblicher Autorinnen derselben Thematik auf Twitter, wenn wir in einem System der Aufmerksamkeitsökonomie leben und die Macht der Aufmerksamkeit geschlechterübergreifend korrumpiert? Im Status quo wirkt es natürlich anti und rebellisch, aber wenn die Antwort des gegenwärtigen Literatur-Feminismus Heike Spechts Forderung auf Twitter nach mehr „Womance“ und „mehr weibliche[n] Jubelkartelle[n]“ ist, dann wird sich das System nicht ändern, nur das Geschlecht der Mächtigen, die die Macht des Mainstreams befördern. Es wäre dasselbe in grün/pink/whatever. Der Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe des Boys-Club-Mainstreams kann aber nur durch eine radikalen Systemwechsel verursacht werden. Wer Patriarchat, Aufmerksamkeitsökonomie, Kapitalismus oder schlechten Journalismus überwinden will, muss die Machtinstrumente dieser Systeme ablehnen, und darf nicht bei systemimmanenter Kritik verweilen oder sich über Erfolge innerhalb des bestehenden Systems freuen. Twitter, Instagram, Springer, die Funktionsweisen dieser Medien fördern Macht und Unterdrückung.
Es stellt sich die Frage: Wie kann Gegenwartsliteratur mehr sein als ein Beitrag zum Markt? Den Männern, die sich nun an den Frauen hinter MeToo bereichern, stehen radikal ästhetische Künstlerinnen gegenüber. Wie Virginie Despentes, die in Frankreich literarisch Macht und Sex seziert. Oder Marie Calloway, die vor zehn Jahren in what purpose did i serve in your life Sex und Macht und Literatur in einer aufwühlenden autofiktionalen Perspektive zusammenbrachte. Oder moderne Klassiker, die politische Kunst noch einmal definierten, wie Gideon Bachmanns erst kürzlich veröffentlichte Gespräche mit Pier Paolo Pasolini, der eigentlich immer auch Sex und Macht thematisierte. Er hat der Anarchie der Macht die Anarchie der Kunst entgegengesetzt und hatte – im Gegensatz zur Kulturbubble – „keine pädagogischen erzieherischen Ambitionen“. Ob Despentes, Calloway oder Pasolini, sie alle verarbeiten aufrichtig ihre Position in der Welt und zeigen zugleich in einer eigenen, nie journalistischen Sprache Möglichkeiten auf, unsere Entfremdung zu überwinden, anstatt diese nur zu reproduzieren. Das Schöne an dieser Welt: Hypes werden irrelevant, alles wird schlecht bleiben und alles wird besser. Gelungene Gegenwartsliteratur erzählt von dieser Ambivalenz des Lebens.
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Super Beitrag!
Ein kurzer Blick wenigstens hinter die Kulissen des medienbusiness… Gut!