Seit zehn Jahren wird die Autorin Mieko Kawakami in Japan gefeiert. Mit ihrem Roman „Brüste und Eier“ (2020) ist sie nun in den Weltrang aufgestiegen – und gewährt einen sehr intimen Einblick in die japanische Gesellschaft – und damit auch in die deutsche.
Konnten sich in der Welt der Brustwarzen denn nicht einmal die starken, kohlrabenschwarzen Riesenbrustwarzen durchsetzen? Konnte es nicht, verdammt noch mal, einfach einmal ihre Zeit sein?
– Bitte was!?
Wer an Japan denkt, denkt meist an Sushi oder den Fuji, an Hightech-Klos und Tempel. Einigen fallen vielleicht noch Fukushima, Mangas und Cosplay ein. In Mieko Kawakamis Roman „Brüste und Eier“ sucht man jedoch vergeblich nach solchen Klischees. Stattdessen wagt es Kawakami, über echte Menschen zu schreiben. Über Themen, die man als Europäer*in zunächst nicht mit Japan verbindet und über die in Japan selbst geschwiegen wird. Themen wie Armut, die messbar wird durch die Größe und Anzahl der Apartmentfenster. Themen wie „weiße“ Körperideale, nach denen Brustwarzen rosa sein müssen und braune in einer schmerzhaften Prozedur gebleicht werden. Themen wie alleinerziehende Mütter, die sich zu Tode schuften, und alleinstehende Frauen, denen die Gesellschaft das Muttersein abspricht. Themen, bei deren brutaler Ungerechtigkeit man sich immer wieder denkt: Bitte was!?
„Brüste und Eier“ dokumentiert die Lebenswege sehr unterschiedlicher Frauen. Es geht um die Schriftstellerin Natsuko, die ein Kind will, aber keinen Ehemann. Es geht um ihre 39-jährige Schwester Makiko, die besessen von einer Brustvergrößerung ist. Wir folgen ihren Erklärungen über die medizinischen Möglichkeiten und fragen uns ratlos: Wieso tut sie das? Und: Ist das Schönheitswahn oder Empowerment? Es geht aber auch um Makikos 12-jährige Tochter, die nicht mehr mit ihr spricht, stattdessen die Sprache seziert und ihr körperliches Erwachsenwerden gleich mit.
Ich habe ein Buch gelesen, in dem es um ein Mädchen geht, das sein erste Periode bekommt (bekommen, das klingt wie ein Geschenk, dabei kann man gar nichts dagegen machen) […]. Wie soll man sich nach solchen Büchern und dem So-ist-das-halt auch sonst fühlen, wenn nicht ausgeliefert?
Der weibliche Körper, Familie und Perspektivlosigkeit, Sprache und Sprachlosigkeit – das ist das Material, mit dem Kawakami den internationalen Feuilleton für sich gewinnt. In Japan wurde sie für ihre bisherigen Werke vielfach ausgezeichnet: mit dem Tanizaki Preis, dem Akutagawa Preis, dem Murasaki Shikibu Preis. Wem diese Namen nicht sagen, dem sei gesagt: man darf beeindruckt sein.
Doch wer ist diese Frau, die in der männerdominierten Literaturwelt Japans solche Wellen schlägt? Man könnte sagen: Mieko Kawakami ist 1976 in Osaka geboren, hätte professionelle Sängerin werden können, debütierte stattdessen 2007 als Romanautorin. Sie sieht viel jünger aus, als sie ist, trägt die Haare in einem kinnlangen Bob und achtet stets darauf, mit ihrem runden Gesicht sehr ernst in die Kamera zu schauen. Man könnte aber auch sagen: Mieko Kawakami ist die Frau, deren Roman Tokyos Gouverneur Shintaro Ishihara als „unangenehm und nicht zumutbar“ bezeichnete. Sie ist die Frau, die von Japans altehrwürdigen Bestsellerautor Haruki Murakami für ihre Arbeit gelobt wird. Sie ist die Frau, die ihn – on stage – für den Sexismus seiner Bücher kritisiert.
Bereits 2008 betrieb Kawakami einen Blog, in dem sie offen, im Osaka-Dialekt und ohne Romantisierung über ihr Familienleben, Sex und die Herausforderung, sich als Frau in der japanischen Gesellschaft zu behaupten, schrieb. Aus diesem Projekt ging der erste Teil ihres Romans hervor, der sich um Natsukos Schwester Makiko dreht, sowie um toxische Schönheitsideale – Stichwort rosa Brustwarzen –, fehlende Aufklärung und die prekäre Arbeitssituation von Frauen. Dabei wird deutlich, wie erschreckend konservativ das japanische Frauenbild noch ist. Von der Ehefrau wird nicht nur erwartet, ihre Berufstätigkeit zugunsten der Kindererziehung aufzugeben, sie hat sich auch um die Eltern des Ehemannes zu kümmern, um den Haushalt sowieso. Sie ist, wie es eine ehemalige Kollegin von Natsuko ausdrückt, „eine ‚Arbeitskraft mit Fotze‘.“ Hier mag man die Vorurteile über das patriarchale Japan bestätigt sehen, doch der Abgleich mit der eigenen Gesellschaft macht unangenehme Parallelen deutlich. Auch in Deutschland bleibt ein Großteil der unbezahlten Care-Arbeit an Frauen hängen. Im Minijobsektor arbeiten mehr Frauen als Männer, Altersarmut bedroht vor allem Frauen, vor allem Mütter.
Hierin liegt die besondere Stärke des Romans: er thematisiert zwar die Missstände Japans, lässt uns aber erkennen, dass sie auch in Deutschland noch immer gegenwärtig sind. „Der dunkle Heimweg, die Obszönitäten der Männer, die hinter Strommasten oder Automaten lauern“ oder die Vorstellung, nur ein „geiler“ weiblicher Körper sei etwas wert, sind keine speziell japanischen Phänomene. Ebenso wenig ist es das Mitleid, das einer alleinerziehenden Mutter automatisch entgegengebracht wird, oder das ungläubige Entsetzen, wenn eine alleinstehende Frau Mutter werden will – ohne die Absicherung durch einen Mann.
In dieser Position befindet sich Natsuko im zweiten Teil des Romans. Samenspende – das ist das große Thema. Doch Natsuko ist nicht nur asexuell, sondern vor allem single und darf deshalb keine klinische Fruchtbarkeitstherapie in Anspruch nehmen. Ihr bleibt nur ein privater Spender oder eine ausländische Samenbank. Die Frage der praktischen Umsetzung rückt jedoch schnell in den Hintergrund angesichts der moralischen Dilemmata. Braucht ein Kind nicht Mutter und Vater? Kann Natsuko sich als freiberufliche Schriftstellerin ein Kind überhaupt leisten? Und vor allem: Hat ein Kind nicht ein Recht darauf, seine Abstammung zu kennen? Das sind die Fragen, mit denen Natsuko konfrontiert wird, und auf die verschiedene Figuren sehr unterschiedliche Antworten geben. Eine von ihnen ist Aizawa, ein „Betroffener“: Da sein Vater zeugungsunfähig war, befahl – ja, befahl – dessen Mutter ihm und seiner Frau, per Samenspende ein Kind zu zeugen, um den „Makel“ zu verbergen. Erst mit 30 Jahren erfährt Aizawa im Streit mit seiner Großmutter: „Ich sei wirklich nicht ihr Enkel […], ich sei nicht der Sohn ihres Sohnes. Ich sei fremden Samen entsprungen.“ Aizawas Verlobte trennt sich deswegen von ihm, denn „[s]ie könne doch kein Kind mit einer Leerstelle in seiner Abstammung zur Welt bringen.“ – Bitte was!?
Doch nicht nur das Thema Blutsverwandtschaft ist heikel in der japanischen Gesellschaft, sondern auch die Vorstellung, der Mann als Familienvater könne durch eine Spende einfach ersetzt werden. Eine Frau, die ohne Mann eine Familie gründet – unvorstellbar. Oder nicht?
Natsuko nimmt sich viel Zeit zur Reflexion, ist hin- und hergerissen, häufig ratlos. Doch gerade diese Ratlosigkeit und Unentschlossenheit laden uns dazu ein, unsere Vorstellungen von Familie, Mutter- und Vaterschaft zu überdenken. Je nach eigener Lebenssituation kommt man vielleicht zu anderen Schlüssen und gerade die Differenz zwischen japanischer Wertevorstellung und nicht-japanischer Rezeption sorgt für überraschende Denkanstöße.
Nach diesem Satz könnte nun Schluss sein, doch „Brüste und Eier“ wäre nicht das besondere Leseerlebnis ohne die außerordentliche Übersetzung von Katja Busson. Das besondere Verhältnis zwischen gesprochenem Japanisch und den Schriftzeichen eröffnet ein großes Spektrum an Mehrdeutigkeiten. Makikos Tochter gibt uns einen ersten Eindruck, wenn sie in ihren Notizen das Kanji für die erste Regelblutung untersucht: geschrieben 初潮, gesprochen shocho.
Warum man es vorne mit dem Zeichen für ‚Anfang‘ schreibt, ist klar […], aber das Zeichen dahinter kenne ich nicht. Ich schlage nach und stelle fest, dass es verschiedene Bedeutungen hat, ‚Gezeiten‘, also ‚Ebbe und Flut‘, ‚gute Gelegenheit‘ und […] so viel wie ‚Kundengefälligkeit‘ oder ‚einnehmendes, gefälliges Wesen‘. Was das mit dem ersten Blut zwischen den Beinen zu tun haben soll, ist mir allerdings ein Rätsel.
Busson gelingt es, eine klare und doch charaktervolle Sprache zu finden. Damit ist „Brüste und Eier“ eine inhaltlich wie stilistische Perle für alle, die sich für ein authentisches Japan geschildert von einer weiblichen Stimme interessieren.
Mieko Kawakami: „Brüste und Eier“ 2020 Köln, DuMont, 495 Seiten.
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Diese Rezension ist „eine inhaltlich(e) wie stilistische Perle für alle“ [Zitat siehe oben], die ihre begrenzte Lesezeit nur an Bücher verschenken wollen, deren kritische Besprechung so engagiert, unverblümt fragend und kenntnisreich ist, dass sie glaubhaft wirkt und zum Buch greifen lässt.
17.01.2022, D.W.