„Ich. Sie. Die Frau“ von Niña Weijers umreißt durch eben diese drei Perspektiven eine Protagonistin mehrerer Distanzierungsgrade, die sich absolut frei in Raum und Zeit fortbewegen kann und in eine Vielzahl an möglichen Leben schlüpft, als würde sie ein paar Schuhe anprobieren. Es gibt „M.“ als Freundin, die drei Varianten einer Protagonistin, die schreibt und in irgendeiner Beziehung zu einem Hund steht. Das sind die spärlichen Ausgangspunkte, die sicher scheinen. Man müsste dieses Buch wohl einige Male lesen und würde immer noch in jedem Satz eine Anspielung, eine neue Ebene von konstruierter Literarität, eine neue Falle finden, in die der nach Chronologie oder Erklärung suchende Lesende tappt.
von Marie Walther
Meine totale Verwirrung beim Lesen des Romans wich nach und nach dem Drang, mir auf jeder Seite einen Absatz zu markieren und in ihm eine vermeintliche Analepse oder Prolepse oder eine Anspielung auf eine andere Möglichkeit des Lebens dieser Frau zu erkennen. Schon der Titel besteht aus zwei Steigerungsformen der Distanzierung zu ihr selbst. Daraus erwachsen drei unterschiedliche Perspektiven, deren Geschichten nur zu entschlüsseln sind, wenn man jedes Regelwerk literarischen Schreibens über Bord wirft. Lesende und selbst die Protagonistinnen können sich der Erinnerung, der Glaubhaftigkeit und Ehrlichkeit des Textes niemals sicher sein. Nicht nur die Persönlichkeiten und Lebensgeschichten der Figuren werden in Zweifel gezogen, sondern auch die Autorschaft als Akt einer authentischen Wiedergabe von etwas. Jeder Handlungsstrang entlarvt sich im Erzählvorgang als konstruiert, wird beurteilt, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Jede der Figuren ist gerade dabei, ein Buch zu schreiben, sich selbst darin neu zu erfinden, andere sterben zu lassen, sich Haustiere anzudichten. Überlegt die ewige Freundin „M.“ zum Beispiel, sie solle sich selbst als Physiotherapeutin darstellen, dann ist sie es ein Kapitel später schon. Die schreibenden Figuren haben die Macht den Text in dem sie leben zu verändern, rückgängig zu machen, sich selbst neue Persönlichkeiten zu geben. Die neuen Ideen werden gleich umgesetzt, obwohl sie vorher von den schreibenden Figuren schon als unglaubhaft entlarvt werden und sie sich gegenseitig davon abraten. Sich gegenseitig als unzulängliche und schwierige Figuren eines Romans hinstellen. Nach dem Lesen dieses Buches wird klar, dass wir nichts wissen, nicht über die Figuren, nicht über ihr Leben innerhalb des Textes. Die Lesenden werden mit vielen Fragezeichen zurückgelassen.
M, der Hund und die glücklichen Nachbarn
Die Spaziergänge im Park mit Hund „Theo“ und Freundin „M.“ sind so etwas wie eine Rahmenhandlung, an der man sich verzweifelt festklammern möchte. „Comic Reliefs“ so bezeichnet „Ichs“ Lektorin „M.s“ Rolle. Der Hund „Theo“ müsse eine Bedeutung erhalten. Ebenso wird ab und zu von einem Pferd gesprochen, dass einmal schon gestorben ist, dann doch nicht. „Carlo“. War das nicht die Katze? „M.“ schlägt vor „Ich“ solle sich einen Hund zulegen. Chronologisch einige Kapitel zuvor wird „Ich“ längst mit einem Hund namens „Theo“ vorgestellt. In der Perspektive „Sie“ ist es eine Hündin namens „Ellie“. Und so geht es verwirrend weiter in den Verstrickungen der Variablen.
Ich sagte zu M., je stärker sie als mein externes Gewissen fungiere, umso mehr verliere sie als Figur an Kontur. Wenn sie etwas mehr sein wolle als eine Stimme, die dann und wann ein paar Halbwahrheiten verstreue, ein aus einer einzigen Person bestehender Chor, dann müsse sie aufhören, mich ihren simplifizierenden Psychologisierungen auszusetzen.
Als Chor oder roter Faden, scheint „M.“ jedoch das einzig Verlässliche des Textes zu sein. Durch sie werden literarische Probleme erörtert. „M.“ steht symbolisch für den Konflikt, etwas authentisches Schreiben zu wollen und was man dann anderes erzählt.
Und dann ist da noch das idyllische Nachbarszenario. Aus jeder Perspektive wirft die Protagonistin einen Blick hinüber in das heimelige Wohnzimmer, hinein in ein glücklicheres Leben. Die Erzählstimme verleibt sich daraufhin die Perspektive der glücklichen Mutter ein, schlüpft in diese Rolle. Doch auch dort taucht eine Nachbarwohnung gegenüber auf. Somit geht die Sehnsucht nach mehr Glück immer weiter von Fenster zu Fenster und egal aus welcher Perspektive, betrachten sich die Figuren immer als unglücklich. Immer weiter von Perspektive zu Perspektive, ewig auf der Jagd nach der Glücklicheren.
Keiner würde dem trauen
Im punkto Drama steht der Text im Gegensatz zu Niña Weijers erstem Roman „Die Konsequenzen“, der auf Grund seiner Dramatik mitreißt, da die Grenze zwischen Leben und Tod nur eine durchscheinende, fragile Membran darstellt, zwischen deren Seiten sich die Protagonistin osmotisch hin- und her bewegen kann. Dort scheint das Leben Kunst zu sein und umgekehrt. Hier ist das Leben vielleicht Literatur und umgekehrt?
Jeder würde denken, dass sich dahinter etwas anderes verbirgt, dass das Glück nur ein dünner Film ist, schöner Schein. Sie würden auf den Mord warten oder natürlich auch den Selbstmord. Oder, noch schlimmer, sie würden denken, dass das alles ironisch sein soll.
Das „Ich“ will uns weismachen, es versuche ein Buch über ein „ruhiges Glück“ zweier Menschen zu schreiben, allerdings ist jenes nur eines der vielen Buchkonzepte, die nie weiter erörtert werden. Die vielen Bücher im Buch werden ausgiebig kritisiert, wie auch klar vorweggenommen: Die enthaltenden Ambiguitäten seien nicht auflösbar und wer nach einer klaren moralischen Haltung der Figuren oder hinter ihnen eine der Autorinnen suche, tue dies besser in einem Roman klarer literarischer und chronologischer Form, mit authentischer Handlung und Spannungsbogen, habe schlicht die falsche Erwartungshaltung. Natürlich ließe sich etwaige dieser fiktiven Kritikpunkte auch auf den realen Text anwenden, was ihnen auf sehr clevere Art, ironisch gleich den Wind aus den Segeln nimmt und die Leseerwartungen verlacht. Fast fühlt man sich als Leser*in angegriffen, so sehr wird man an der Nase herum geführt.
Ruhiges Glück, das zu lange dauert, sagte sie, ihre dunklen Augen eindringlich auf meine gerichtet, ist nicht viel mehr als ein langsamer Tod, fürchte ich, und ehe du dich’s versiehst, bist du dabei, ein ganz andere Buch zu schreiben, als du denkst.
Wie eine Krabbe durch Raum und Zeit
„Ich“ lernt am Anfang eine ältere Schriftstellerin kennen, die eine Art Symbol für das parataktische Erzählmuster, ungebunden an Zeit und Raum, darstellt. Ob „Ich“ und die ältere Schriftstellerin dieselbe Person sein könnten? Gibt es eine Überlappung von Zeit und Raum, wenn sich diese beiden Figuren begegnen, da doch alles nebeneinandergestellt ist und sich der Text einer Chronologie verweigert?
Die Gleichzeitigkeit aller Variablen würde einige dieser symbolhaften Annahmen nahe legen. Jede Geschichte springt an einen Ausgangspunkt zurück und entwickelt eine neue Realität, eine neue Möglichkeit, eine neue Zeit. Es ist ein endloses, sich nie auflösendes Aufspalten und Zerfallen von Figuren, Räumen und Zeitebenen. Andererseits existieren kaum feste Ausgangspunkte, die überhaupt zerfallen könnten.
Plötzlich ist sie sich sicher, dass sie nie mehr von der Insel wegkommt. Dass ihr Platz auf dem Festland von jemand anderem eingenommen wird, einer Frau, die ihr gleicht, aber ohne ihre Fehler, eine schöne Frau, die genau richtig ist, genau genug, eine Frau, die in den Armen ihres Liebsten liegt und nichts anderes will.
Es ist, als würde die Erzählstimme von Verkörperung zu Verkörperung springen, jede wird vorher als eine Randfigur eingeführt und dann bemächtigt sich die Erzählstimme ihrer, vereinnahmt sie und probiert dieses Leben aus, nur um es ins Chaos zu stürzen und zu verleben und wenn diese Hülle leer und ausgesaugt daliegt, dann wird der nächste Charakter zu diesem Zwecke erfunden.
Niña Weijers: Ich. Sie. Die Frau. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp 2021, 235 Seiten.
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