In Verlagslektoraten gehen sie zuhauf ein: Die Memoiren „durchschnittlicher“ Menschen, die keinerlei Berühmtheit haben, aber dennoch auf ein bewegtes Leben zurückblicken können. Im Lektorat landen diese Manuskripte zumeist direkt im Papierkorb oder werden bestenfalls mit einer Standardabsage an den Verfasser zurückgeschickt. In wirklich guten Händen sind diese Lebenserinnerungen dagegen bei Claudia Wiedelmann, die mit Hingabe und Vergnügen am Detail Aufzeichnungen dieser Art liest. Litaffin schaute der 28-jährigen Berlinerin bei der Lektüre über die Schulter und sprach mit ihr über ihr ungewöhnliches Ehrenamt.
Litaffin: Claudia, wirst du merkwürdig angeschaut, wenn du erzählst, dass du in deiner Freizeit Tagebücher wildfremder Menschen liest?
Claudia Wiedelmann: Es bedarf zumindest der Erklärung. Aber wenn ich erzähle, was genau ich da mache, stößt das eigentlich immer auf Faszination.
Litaffin: Du bist ehrenamtliche Leserin für das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, das private Aufzeichnungen aus dem gesamten Bundesgebiet archiviert und der Forschung zugänglich macht. Wie funktioniert das?
Wiedelmann: Ich bekomme regelmäßig Dokumente aus dem Archiv geschickt, die ich nach bestimmten Kriterien erfasse. Da ich nicht vor Ort bin, bekomme ich Kopien der Originale, die dem Tagebucharchiv übergeben wurden. Darunter sind Tagebücher, aber auch Lebenserinnerungen, Reiseberichte und Briefe. Ich lese die Dokumente möglichst genau und bereite sie für das Archiv auf. Dafür gibt es zu jedem Text einen Erfassungsbogen, auf dem ich Personen, Orte und Themen notiere. Das Dokument, an dem ich gerade arbeite, ist von einem Mann, der 1914 geboren wurde. Offenbar lebt er aber noch, denn er hat seinen Text 2010 eingereicht.
Litaffin: Wie viele Dokumente liest du pro Jahr für das Archiv?
Wiedelmann: Pro Jahr lese ich etwa sieben bis acht Tagebücher. Das ist natürlich etwas anderes als bei einem Roman, den man einfach so weglesen kann. Für die Tagebücher muss ich mir Zeit nehmen und mir nebenbei Notizen machen. Manchmal ist die Handschrift wirklich furchtbar, das dauert dann seine Zeit. Dieser Text ist dankenswerter Weise getippt, aber es sind auch handschriftliche Briefe drin.
Litaffin: Das, was du hier liegen hast, ist sogar gebunden. Auf der ersten Seite ist ein Hochzeitsfoto in schwarzweiß zu sehen. Untertitel: „Band 2. Unsere ersten Ehejahre (1940-1954)“.
Wiedelmann: Ja, manche Leute reichen gleich mehrere Bände ein – ich habe aber nur diesen einen bekommen. Der Text beginnt damit, dass der Verfasser gerade geheiratet hat. Es ist Zweiter Weltkrieg und er wird eingezogen. Eigentlich ist er Diplomingenieur, ist jetzt aber an der Front in Russland für die Aufklärung zuständig, muss das Mündungsfeuer des Feindes beobachten und entsprechende Meldungen machen. Gleichzeitig schildert er die Zustände vor Ort im Bunker, was sehr gruselig zu lesen ist: Die Soldaten haben Läuse, Wanzen und Ratten, es ist irre kalt, minus 23 Grad, und er muss bei offenem Fenster mit angeschlagenem Gewehr Wache halten. Da bin ich gerade.
Litaffin: Stammen die meisten Tagebücher, die du liest, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs?
Wiedelmann: Ja, in der Tat, was vielleicht auch daran liegt, dass das die Generation ist, die gerade stirbt. Oftmals reichen ja auch Enkel oder Kinder die Aufzeichnungen ein, die sie auf dem Dachboden eines Verstorbenen finden. Zum anderen weiß ich aus eigener Erfahrung, dass unsere Großeltern nicht gerne über den Krieg reden, das waren furchtbare Erlebnisse, die weggesperrt wurden und über die man nicht sprach. So eine Aufzeichnung ist auch eine Art Befreiungsschlag: Meine Kinder oder meine Enkel sollen es doch noch wissen. Es gibt natürlich auch andere Texte, die ich für das Archiv lese: Mein ältestes Tagebuch stammte von einem Lehrer, der zwischen 1811 und 1893 gelebt hat. Das am weitesten in die Gegenwart hineinreichende Tagebuch war das eines schwulen Berliners, der Ende der 90er notiert hat, was er über seine Nachbarn denkt, über seine Familie, über das Leben.
Litaffin: Diese Tagebücher mit Sorgfalt durchzuarbeiten braucht bestimmt jede Menge Zeit, oder?
Wiedelmann: Ja, das stimmt. Aber ich unterstütze damit eine gute Sache. Ich habe heute erst mit einer Freundin gesprochen, die erzählte, ihr Opa hätte Erinnerungen aufgeschrieben, von denen niemand wüsste, wohin damit. Solche Dinge sind nicht druckreif, aber durch das Deutsche Tagebucharchiv finden sie doch noch eine gewisse Öffentlichkeit. Ich finde Alltagsforschung sehr wichtig – denn natürlich gibt es die großen Persönlichkeiten der Geschichte, aber es gibt auch die Masse. Und wenn man nicht weißt, was die Masse getan hat, dann kann man die jeweilige Zeit nur schwer einschätzen.
Litaffin: Tagebücher berühmter Musiker oder Schriftsteller sind ja zumeist interessant, weil diejenige Person aus einem gewissen Kontext heraus bekannt ist. Wie ist es mit Texten von Otto Normalverbrauchern? Ist da nicht vieles banal und langweilig?
Wiedelmann: Nicht jedes Tagebuch ist ein Volltreffer. Manche Schilderungen sind relativ belanglos. Aber im Zusammenhang merkt man schon, dass die Kleinigkeiten oft auch für die betreffende Person sehr wichtig waren. Ich fühle mich verpflichtet, das ordentlich zu lesen und auch aufzunehmen, damit die Nachwelt da was rausziehen kann. Das Tagebucharchiv bewahrt Ausschnitte aus dem Leben kleiner Leute auf, die in ihrer Gesamtheit eine Bedeutung bekommen.
Im Deutschen Tagebucharchiv recherchieren nicht nur Wissenschaftler. ZEIT Campus wollte beispielsweise wissen: „Waren Studenten früher wirklich anders als heute?“ und hat Aufzeichnungen aus dem letzten Jahrhundert zusammengetragen. Lesenwert!
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Das ist ja eine tolle Initiative! Ich stelle mir Claudias Arbeit vor, als würde man im Dunkeln einen Blick in die erleuchteten Häuser werfen, an denen man vorübergeht.
Ja, genau so ist es, glaube ich. Ich finde es ja schon faszinierend, meine eigenen alten Tagebücher zur Hand zu nehmen. Dort ein aufbewahrter Stofffetzen, da ein rotes Herz mit Initalien, die vielen süßen Nichtigkeiten des Teenagerlebens…