Die deutschen Graphic Novel-Verlage setzen Impulse, die auch für den Rest der Buchbranche richtungsweisend sind. Selbst traditionsreiche Häuser wie Suhrkamp versuchen sich inzwischen an der neunten Kunst. Doch was treibt die Crème de la Crème der Szene in diesem Jahr? Ein Besuch bei Reprodukt und dem Avant-Verlag auf der Leipziger Buchmesse.
In kleinen Schritten Richtung Mainstream: Dass es voran geht, merkt man auch daran, dass die Stände von Reprodukt und Avant-Verlag umgezogen sind. Im letzten Jahr musste man die kleinen aber feinen Graphic Novel-Verlage noch zwischen haufenweise Mangas, farbigen Kontaktlinsen und Figuren von halbnackten Superheldinnen suchen. Inzwischen sind sie in besserer Gesellschaft angekommen: bei den unabhängigen Verlagen. Und ganz offensichtlich wirkt ihr Sexappeal ansteckend. Oder wie soll man es sich sonst erklären, dass nun auch der Verbrecher- und der Mairisch-Verlag mit Menschen wie Gras wie bzw. mit Vergiss nicht das Salz auszuwaschen die ersten Graphic Novels im Programm haben? Muss man sich bei Reprodukt und Avant-Verlag jetzt etwa Sorgen machen, dass andere ihnen das Wasser abgraben? Nein, eigentlich nicht. Denn die beiden sind auch in diesem Frühjahr wieder gut aufgestellt.
GZSZ von der Elfenbeinküste
Der Schwerpunkt? Afrika. In all seinen Facetten und Farben, glitzernder Alltag hier, Armut und Flucht dort, Hauptsache keine Klischees wiederholen. Vor allem der 384 Seiten starke Band Aya von Marguerite Abouet und Clément Oubrerie (dem Zeichner der Künstlerbiographie Pablo) hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit Vorurteilen aufzuräumen. Afrika, besser gesagt die Elfenbeinküste, erscheint hier nicht als gewaltiger Slum, wie der vereinfachende westliche Blick gerne unterstellt. Stattdessen erzählt die Geschichte von der 19-jährigen Aya und ihren zwei Freundinnen Adjoua und Bintou, die gemeinsam in der Metropole Abidjan aufwachsen.
Dabei geht es zu wie in einer Soap-Opera, wie mir am Stand von Reprodukt erklärt wird. Aya träumt von einer Zukunft als Ärztin, es geht um Männer, Liebe, Partys oder die Wahl zur „Miss Stadtteil“. Es ist das bunte Leben, ein lebendiger Einblick in die Kultur der Elfenbeinküste, der durch einen ausführlichen Glossar ergänzt wird, in dem neben Fremdwörtern auch einheimische Rezepte oder das richtige Binden eines Kopftuches erklärt werden.
Doch es gibt sie auch, die düstere Seite von Afrika – nur einen Stand entfernt, beim Avant-Verlag. Pünktlich zur Buchmesse wird hier der Band Unsichtbare Hände von dem finnischen Autor und Zeichner Ville Tietäväinen ausgestellt. Ausgangspunkt der fiktionalen Geschichte sind die Armenviertel von Tanger, in denen der Schneidergehilfe Rashid um sein Überleben kämpft. Als er seinen Job verliert, entschließt er sich dazu, sein Glück in Europa zu suchen. Doch der Weg ist ein ständiger Kampf: mit den Naturgewalten auf der Überfahrt, mit skrupellosen Schleuserbanden und Menschenhändlern und mit Grenzpolizisten, die Rashid nach seiner Ankunft auf den Kopf urinieren. Europa, das wird schnell klar, bietet kein besseres Leben für Rashid. Ganz im Gegenteil. Denn für die Überfahrt hat er seine Zukunft verkauft. Als Arbeitssklave wird er dazu gezwungen, die Kosten für die Überfahrt in den Treibhausplantagen eines Lebensmitteldiscounters abzuarbeiten.
Unsichtbare Hände ist eine exemplarische Elendsgeschichte, sie ist fiktional, basiert aber auf jahrelangen Recherchen. Wie mir am Stand vom Avant-Verlag erklärt wird, ist Ville Tietäväinen nach Nordafrika gereist, hat mit Flüchtlingen, Schwarzarbeitern und Grenzpolizisten gesprochen, um deren Erfahrungen in den Band einfließen zu lassen. Außerdem bemerkenswert: Von jedem verkauften Exemplar gehen zwei Euro als Spende an die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Zu einem Buchtrailer von Unsichtbare Hände geht es hier. Das Profil des Avant-Verlags als engagierte Plattform für politisch unbequeme und aktuelle Themen wird durch Unsichtbare Hände noch verschärft.
Die Verbindung zwischen Graphic Novel und journalistischer Recherche pflegt der Verlag allerdings schon seit langem. Auch Vita Obscura von Simon Schwartz schlägt in dieselbe Kerbe, obwohl es darin wesentlich skurriler und auch lustiger zugeht. In dem Band sind die teils aberwitzigen, teils unglaublichen Biographien versammelt, die Schwartz seit dem Jahr 2012 für die Zeitung Der Freitag als Cartoon gestaltet hat. Dabei geht es immer um Ausnahmepersönlichkeiten und so seltsam es klingt: nichts davon ist erfunden. Weder der Kunstfurzer noch die Krankenschwester, die neben dem Untergang der Titanic noch drei weitere Schiffsunglücke überlebt hat. Das alles ist akribisch recherchiert und in einseitigen, farbenfrohen Cartoons dargestellt, deren jeweiliger Stil die Geschichte reflektiert, die gerade erzählt wird. Schwartz erklärt mir später, dass es dabei keinen roten Faden gibt, die Geschichten müssten ihn lediglich interessieren und berühren. Außerdem recherchiert er einfach gerne, wie er – ein bisschen über sich selbst verwundert – zugibt.
Mobbing, Rache und anspruchsvolle Comics für Kinder
Und sonst so? Unter all den Neuerscheinungen stechen zwei weitere besonders heraus: Jane, der Fuchs und ich, das im Kinderprogramm von Reprodukt erscheint, und Antoinette kehrt zurück aus der Graphic Novel-Reihe des Egmont Verlags, die erst vor einem halben Jahr gegründet wurde. Insgesamt sei man mit dem neuen Programm sehr zufrieden, heißt es dort, die Graphic Novels würden sich gut in das Profil des Verlags einfügen, bisher gebe es nichts zu klagen. Nur mit Neuerscheinungen ist Egmont ein bisschen geizig. Denn bis auf Antoinette kehrt zurück kann man zur Buchmesse leider nur Altbekanntes präsentieren. Dafür hat es der Band in sich.
Die vielversprechende Newcomerin Olivia Vieweg erzählt hier die Geschichte von Antoinette, die nach Jahren der Abwesenheit in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Dort trifft sie alte „Schulfreunde“ wieder, die deshalb in Gänsefüßchen gerahmt sind, weil Antoinette ein typisches Mobbingopfer war – etwas zu dick, etwas zu introvertiert, etwas zu abhängig von den anderen Kindern. Von dem Anfang (und dem Zeichenstil) der Geschichte sollte man sich allerdings nicht abschrecken lassen. Wirkt Antoinette kehrt zurück zuerst noch wie ein typischer Vertreter der Chicklit, nimmt es schnell eine ziemlich morbide Wendung. Plötzlich schmoren bei Antoinette die Sicherungen durch und das ehemals so süße Mädchen inszeniert einen privaten Rachefeldzug gegen ihre früheren Peiniger. Zu einem Buchtrailer geht es hier.
Weniger ironisch und düster geht es dagegen bei Jane, der Fuchs und ich zu – obwohl sich auch diese Geschichte um das Thema Mobbing dreht. Mit sehr einfachen, präzisen Bildern erzählen die beiden Kanadierinnen Fanny Britt und Isabelle Asenault die Geschichte von Hélène, einem phantasiebegabten Mädchen, das sich vor den Demütigungen ihrer Schulkameraden in die Literatur flüchtet. Irgendwann reicht das allerdings nicht mehr und Hélène sucht die Hilfe von einem erdachten Fuchs. Jane, der Fuchs und ich erzählt eindringlich von dem Leiden eines Mobbingopfers, das sich nicht zur Wehr setzen kann, von der Macht der Vorstellungskraft und von der Schönheit der Literatur. Obwohl eigentlich ein Kinderbuch, ist es deshalb auch für Erwachsene zu empfehlen.
Insgesamt beweist die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr vor allem eins: Es geht voran! Zwar gibt man sich bei Reprodukt und auch beim Avant-Verlag immer noch skeptisch, wenn es heißt, Graphic Novels würden langsam aber sicher im Mainstream ankommen. Wenn die beiden Vorreiter aber auch weiterhin auf gut produzierte, schön anzusehende und politisch engagierte Comic-Literatur setzen, kann der Weg nicht mehr weit sein.
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bei voland & quist gab es vor einem jahr auch schon eine graphic novel, alois nebel heißt das buch und ist sehr zu empfehlen! | http://www.voland-quist.de/buch/?166/Alois+Nebel