„Die Frau, die auch ich hätte sein können“

Schwangerschaftsabbrüche wurden in der Literatur bisher größtenteils ausgespart. Nun erzählen Autor*innen wie Theresia Enzensberger, Jayrôme C. Robinet und Karosh Taha in einer neuen Anthologie über Abtreibungen.

„Glückwunsch, Sie sind nicht mehr schwanger“, sagt die Anästhesistin in Stefanie de Velascos Geschichte, einer der 15 Erzählungen, die in der von Charlotte Gneuß und Laura Weber herausgegebenen Anthologie „Glückwunsch – 15 Erzählungen über Abtreibung“ erschienen sind. Eine Gratulation nach einer Abtreibung hört man eher selten. Zumeist ernten diejenigen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, im besten Fall mitleidige Blicke und betroffenes Schweigen. Wenn sie Pech haben, wird ihnen Mord vorgeworfen oder Gewalt angedroht: In den USA werden Schwangerschaftsabbrüche seit dem Wegfall des Paragraphen Roe vs. Wade im letzten Jahr in immer mehr Bundesstaaten verboten. Jüngst brachten Republikaner in mehreren Staaten Gesetzesentwürfe ein, die Abtreibung als Mord unter Todesstrafe stellen sollen.

In Deutschland steht der Schwangerschaftsabbruch unter dem Paragraphen 218 immer noch im Strafgesetzbuch. Lediglich ein Zusatzparagraph sorgt dafür, dass sie straffrei sind. Wie fragil eine solche Regelung sein kann, zeigt das Beispiel USA.

Zukunftsvisionen

Theresia Enzensberger entwirft in ihrer Erzählung eine dystopische Welt, in der Schwangerschaftsabbrüche verboten wurden. Abwegig erscheint das nicht: „Alles, was es brauchte, war eine Abschaffung der Beratungsregelung, die in der frühen Schwangerschaft bisher eine Ausnahme geschaffen hatte.“ Die Protagonistin stellt zu Hause Abtreibungspillen her und verteilt sie an Frauen, die sie nötig haben. Dieses Vorgehen ist zwar ein etwas moderneres, als die Kleiderbügel oder Stricknadeln, die früher für illegale Abbrüche in Hinterzimmern verwendet wurden. Dennoch wird in der Geschichte deutlich, wie gefährlich ein solcher Eingriff sein kann, wenn keine legale medizinische Versorgung gesichert ist.

Eine positivere Zukunftsaussicht stellt Yael Inokai dar. In ihrer Erzählung, die ebenfalls ein paar Jahre in der Zukunft liegt, wurde ein Gerät entwickelt, mit dem Abtreibungen unkompliziert durchgeführt werden können: der SAZ – kurz für „sicher abtreiben zuhause“. In dieser Vision gibt es nicht nur die technischen Voraussetzungen und genügend Personal, um ungewollt Schwangere bei ihrem Abbruch zu betreuen, sondern auch umsichtige Männer, die sich ihrer Rolle bewusst sind: „Wir haben das ja beide zu verantworten“, sagt der Mann der Protagonistin, der fleißig die Abtreibungsmaschine untersucht.

Enttäuschende Männer

Beispiele von Männern, die in der entscheidenden Situation enttäuschen, obwohl auch sie an der Schwangerschaft beteiligt sind, gibt es genug. Diejenigen, die die Entscheidung gegen die Schwangerschaft als Entscheidung gegen sich verstehen und ihre Partnerin verlassen. Die von der Abtreibung am liebsten nichts wissen wollen, weil sie nicht mit „Weiberkram“ belästigt werden möchten. Dieser Gedanke, dass sie die Schwangerschaft eigentlich nichts angehe, herrscht auch bei den jüngeren Männern vor, obgleich sie das niemals so ausdrücken und sich vermutlich als Feministen verstehen würden. So sagt eine der Protagonistinnen in Charlotte Gneuß’ Text:

„Dass er so gar nicht zweifelt, dass ihn das so gar nicht umtreibt. Dass er immer nur sagte, dein Körper, deine Entscheidung. Das wirkte fast so, als ob er stolz sei, mir so großmütig die Entscheidung zu überlassen. Als ob das ganz allein meine Entscheidung sei, als ob ich eine Entscheidung unabhängig von ihm fällen könnte.“

Ost versus West

Der Text basiert auf Interviews, die Gneuß mit Menschen, die eine Abtreibung hinter sich haben, geführt hat. Dabei werden auch die Unterschiede zwischen den Generationen und unterschiedlichen Herkünften – besonders zwischen Ost und West – deutlich. Eine Frau aus der ehemaligen DDR erzählt sehr pragmatisch von ihrem Abbruch, während in der BRD zu dieser Zeit Abtreibung noch vollständig verboten war: „Nee, dieses hochtrabende Gerede von der großen Sünde, das können sich immer nur die erlauben, die mit dem Leben nichts am Hut haben.“

Körperliche Selbstbestimmung für alle

Jayrôme C. Robinet zeigt in seinem Text die Gemeinsamkeit zwischen dem Gespräch über Abtreibungen und Gesundheitsversorgung von trans Personen auf: 

„Oft wird es medial so dargestellt, als würde mensch beide Entscheidungen sehr häufig und mit großer Wahrscheinlichkeit bereuen. Will man so das Prinzip der Selbstbestimmung grundsätzlich untergraben? Hat mensch kein Recht auf Reue? Und gibt es keine Menschen, die bereuen, Eltern zu sein?“

Er macht deutlich, dass die Debatte um reproduktive Rechte nicht in Europa aufhören darf und schreibt über die Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen, die in der ehemaligen französischen Kolonie La Réunion in den 1960ern durchgeführt wurden. Auch heute noch dokumentiere die Organisation „Women in Exile“, wie Frauen auf der Flucht eine Hormonspirale eingesetzt wird, bei der sich die Ärzt*innen in Deutschland weigern, sie wieder zu entfernen. 

Zu einseitiges Bild 

Das Recht auf Abtreibung ist auch nach all den Jahren feministischer Kämpfe eines der fundamentalen Themen, an denen die körperliche Selbstbestimmung von Frauen und queeren Menschen verhandelt wird. In der Literatur, die immer auch ein Abbild der gesellschaftlichen Debatten darstellt, bleiben Schwangerschaftsabbrüche jedoch weitgehend unsichtbar. Wenn von ihnen erzählt wird, dann meist eindimensional und negativ. So kritisiert die Literaturwissenschaftlerin Clair Wills im Podcast der London Review of Books, dass Abtreibungen zumeist als kennzeichnend für soziale Probleme erzählt werden, statt sie mit Sex und Lust zu assoziieren. Die Autorin Nora Burgard-Arp veröffentlichte 2022 den dystopischen Roman „Wir doch nicht“, in dem Abtreibung in Deutschland verboten wird und bemängelt an der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche, dass die Erleichterung, die ungewollt Schwangere nach dem Eingriff empfinden, häufig ausgeblendet werde. Dazu zitiert sie eine Studie, laut der mehr als 95 Prozent derjenigen, die eine Abtreibung hatten, dies nach fünf Jahren immer noch für die richtige Entscheidung halten. Burgard-Arp plädiert für einen differenzierteren Diskurs, der die Selbstbestimmung der Schwangeren in den Vordergrund stellt. 

Die Anthologie „Glückwunsch“ versammelt genau das: vielfältige Sichtweisen auf Abtreibungen, die mal schmerzhaft und mal erleichternd sind. In unterschiedlichen Textformen – von klassischen Kurzgeschichten über Briefe bis hin zur konkreten Poesie – nähern sich die Autor*innen dem Thema empathisch, ohne in Stereotype zu verfallen. „Die Frau, die auch ich hätte sein können, wären die Dinge anders gelaufen, als sie es sind“, schreibt Lena Gorelik in ihrer Erzählung über eine Frau in einer Abtreibungsklinik. Schwangerschaftsabbrüche sind nichts, was nur anderen passiert. Der Kampf um körperliche Selbstbestimmung ist längst nicht vorbei. Es wird Zeit, dass das auch in der Literatur abgebildet wird.

„Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung“, herausgegeben von Charlotte Gneuß und Laura Weber, erschienen 2023 bei Hanser Berlin, 200 Seiten.

1 Kommentar zu „„Die Frau, die auch ich hätte sein können““

  1. Es stimmt wirklich, dass man nur selten Glückwünsche nach Abtreibungen hört. Ich weiß allerdings von einer Freundin, dass sie gerade darüber überlegt. Ich hoffe, dass sie den richtigen Entschluss fassen wird.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen