Die französische Schriftstellerin Véronique Ovaldé hat seit dem Jahre 2000 sechs Romane veröffentlicht, von denen zwei ins Deutsche übersetzt wurden: „Alles glitzert“ und „Die Männer im Allgemeinen gefallen mir sehr“ (beide erschienen im Kunstmann Verlag). In ihren Romanen erzählt sie märchenartige Geschichten, deren Inhalte tief im realen Leben verwurzelt sind. litaffin sprach mit ihr im Rahmen des rendez-vous littéraire über ihren neuen Roman, die Verhängnisse des Weiblichen und den Umgang mit Feminismus im 21. Jahrhundert.
Litaffin: Worum geht es in Ihrem neuesten Roman „Ce que je sais de Vera Candida“?
Ovaldé: Der Roman erzählt von vier Frauengenerationen, die auf einer imaginären Insel in Lateinamerika leben. Ich verwende in meinen Büchern immer imaginäre Orte. Mein Text erzählt von Frauen und ihrer Befreiung, von ihrem familiären Schicksal. Denn wie in vielen Familien hat man auch hier den Eindruck, dass die Dinge immer wiederholt werden.
Die Geschichte beginnt wie ein lateinamerikanisches Märchen. Mit Rose Bustamente, die Fischerin von fliegenden Fischen ist und Prostituierte war. Schließlich kommt die Geschichte im Alltag ihrer Enkelin an, die die Insel verlässt und zum Kontinent aufbricht. Um sich zu emanzipieren, muss sie allerlei Ereignisse und verschiedene Arten von Gewalt überwinden.
Litaffin: „Ce que je sais de Vera Candida“ spielt auf der Insel Vatapune und erzählt von Frauen, die „dem Verhängnis ihres Geschlechts ausgeliefert“ sind. Was bedeutet das, „das weibliche Verhängnis“?
Olvadé: Ich denke, dass der Ort, an dem ich die Geschichte spielen lasse – dieses archaische Inseldorf – die Lektorin, die diesen Text geschrieben hat, dazu inspirierte. Denn an diesen Orten wird der besondere Status von Frauen besonders deutlich. Sie erfahren männliche Macht und soziale Gewalt. Aber das Verhängnis bezeichnet auch die Probleme der Wissensweitergabe zwischen Mutter und Tochter. Was gebe ich meiner Tochter mit und wie übertrage ich dieses Wissen?
Litaffin: Denken Sie, dass dies ein generelles Problem von Frauen ist?
Olvadé: Wenn ich diese Frauen beschreibe, dann weil ich davon überzeugt bin, dass es fast überall schwieriger ist, eine Frau als ein Mann zu sein.
Als meine Mutter geboren wurde, durften Frauen in Frankreich noch nicht einmal wählen gehen. Das ist doch verrückt, wenn ich meiner kleinen Tochter erklären muss, dass ihre Großmutter nicht wählen durfte, weil man dachte, Frauen hätten kein Gehirn. Trotzdem konnte ich ja nicht die Geschichte meiner Mutter oder eine Geschichte von der Frau gegenüber erzählen. Also versetze ich die Zusammenhänge in eine luxuriösere, ausgeschmücktere Umgebung.
Litaffin: In einem Interview haben Sie von dem Weg zwischen „freiwilliger Unterwerfung und illusorischer Emanzipation“ gesprochen…
Olvadé: Das nimmt darauf Bezug und ist eine sehr weibliche Eigenschaft: Ergebenheit, die Bereitschaft zu akzeptieren, abhängig zu sein. Manchmal ist dies etwas, was wir sogar freiwillig tun. Das ist doch erschreckend.
Litaffin: Aber warum akzeptieren, abhängig zu sein?
Olvadé: Weil es uns beigebracht wurde. Meine Mutter zum Beispiel hat mir beigebracht: Dass man nie seinen Mann verlässt, dass man jung heiratet. Da ist immer diese Last, dass man erst loswerden muss, was so lange Gültigkeit hatte. Natürlich hilft uns die Gesellschaft, viele Sachen haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. Aber dafür gibt es noch kein solides Fundament.
Litaffin: Heute ist die Gleichberechtigung im Gesetz angekommen und zumindest institutionalisiert. Wenn man über Feminismus spricht, gibt es viele Leute die sagen, „das brauchen wir nicht mehr“…
Olvadé: Ja, es gibt viele Leute, die das sagen!
Litaffin: Und wenn man dann von Feministinnen redet…
Olvadé: Ja, das ist ein Schimpfwort, das ist doch verrückt. Wenn du in Frankreich sagst „Ich bin Feministin“, gucken dich die Leute an, als wärst du eine super-agressive Tigerin, die alle Männer kastrieren möchte. Sie übersehen, dass ein Mann auch Feminist sein kann, dass eine Frau Feministin und feminin sein kann. Es gibt nicht viele Schubladen für Feministinnen. Man sagt mir auch, dass meine Texte rachsüchtig sind, dass ich schreckliche Männer beschreibe. Aber es gibt welche, die sind Menschenfresser und andere, die sind wunderbar. Meine männlichen Figuren haben viele Nuancen, aber Nuancen kommen nun mal nicht sehr gut an.
Litaffin: In einem Interview haben Sie von dem seit 1993 in der Ciudad de Jerez, im nördlichen Mexico, andauernden Massakern gegen Frauen gesprochen. Mehr als 300 Frauen sollen dieser Mordserie schon zum Opfer gefallen seien. Inwiefern hat Sie diese „feminicide“ zu Ihrem Text inspiriert?
Olvadé: Ich bin darauf aufmerksam geworden, als ich schon an „Ce que je sais de Vera Candida“ schrieb und diese Massaker haben mich zutiefst geschockt. Sie sind in Lateinamerika passiert, genau wie mein Text und die Tatsache, dass alle diese Frauen getötet wurden, hat mich getroffen. Ich habe mir gesagt, diese Frauen wurden vergewaltigt, missbraucht und ermordet, einfach weil sie Frauen sind.
Litaffin: Warum nehmen Sie auf dieses einzigartige Phänomen aus Mexiko Bezug? Welche Relevanz hat dies für europäische Frauen? Wir sind nicht einer solchen ständigen Aggression ausgesetzt, warum sollten wir uns also in unserer Lebenswelt betroffen fühlen?
Olvadé: Was an diesen Morden deutlich wird ist, dass die Gewalt gegen Frauen mit ihrer Beschaffenheit als Frauen zusammenhängt. Das hat mir in Bezug auf den Status von Frauen vieles klar gemacht. Es betrifft uns hier vielleicht nicht direkt, aber mich betrifft es. Und andere Frauen betrifft es auch, denn ich denke, so wunderbar sind die Dinge für uns auch nicht.
In meinem ganzen Leben, in meinem Unternehmen, werde ich mir über meinen besonderen Status die ganze Zeit bewusst. Zum Beispiel ist es ziemlich verwirrend, dass man in Frankreich in seiner Steuerklärung neben seinem Namen immer nach der „conjointe“ (Partnerin) gefragt wird, als wenn das Familienoberhaupt immer ein Mann wäre! Das ist doch komisch! Warum er? Es gibt viele Frauen, die mehr Geld als ihr Mann verdienen. Also wenn es keine Frage des Geldes ist, worum geht es dann?
Das sind natürlich angesichts eines solchen Massakers wie den Frauenmorden in Mexiko nur kleine Details, aber auf die Anhäufung dieser Dinge werde ich schon aufmerksam. Aber ich werde nicht aggressiv, ich stelle fest.
Litaffin: Aber angesichts dieser Ungerechtigkeiten wird man doch schon ein wenig wütend?
Olvadé: Ich weiß nicht. Vielleicht bringt Bücher schreiben ein bisschen Fantasie und Amusement in die ganze Sache. Vielleicht bewahrt es mich davor, wütend zu werden.
Litaffin: Sie versuchen also, auf eine positive Art und Weise zu schreiben und so bestimmte Problemen anzusprechen?
Olvadé: Ja (zögert). Ich habe keine bestimmte Intention. Ich weiß nicht, ob es gut ist, Romane in einem ganz bestimmten Interesse zu schreiben, zu Anfang zumindest nicht. Die Dinge entwickeln sich, Schritt für Schritt. Aber ich denke, dieses Problem ist schon etwas, das präsent ist und über dass ich zweifellos Lust und Bedürfnis hatte zu sprechen. Auf meine ganz eigene Art und Weise, aber nicht, indem ich meine eigene Geschichte erzähle.
Litaffin: Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Olvadé: Ich habe mich nie als Feministin gesehen, ich habe nie gesagt, dass ich Feministin bin. Aber wenn man mich unbedingt in eine Schublade stecken möchte, ja, ok, dann begebe ich mich in eben diese Schublade (lacht).
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