Ivan Jablonka erzählt in seinem aktuellen Roman von einem Kriminalfall, der zu einer Staatsaffäre wurde, gesellschaftliche Missstände offenbarte und den Untergang des Patriarchats einmal mehr einforderte.
von Lena Marie Reimers
Die ZEIT tut es, der Stern auch und Netflix schon lange – die Rede ist von True Crime. Ob als Podcast ZEIT-Verbrechen, als Hochglanzmagazin Stern Crime oder aber als Serie Making a Murderer des US-amerikanischen Streamingdiensts Netflix, menschliche Abgründe fesseln Millionen von Menschen. Dass im Gegensatz zu Kriminalromanen persönliche Schicksale hinter den Geschichten stehen, wird dabei häufig außer Acht gelassen. Weniger konsumierbar ist jedoch der letzte Roman von Ivan Jablonka: Der französische Soziohistoriker und Schriftsteller beschäftigt sich mit einem wahren Fall, bei dem im Jahr 2011 der kompletten französischen Nation der Atem stockte. In Laëtitia oder das Ende der Mannheit erzählt er von dem brutalen Mord an der 18-Jährigen Laëtitia Perrais, der eine politische Kontroverse in Frankreich entfachte. Doch anders als Vertreter*innen aus Politik und Medien widmet er sich dem Verbrechen aus einer anderen Perspektive. Jablonka gelingt eine feine Gradwanderung zwischen voyeuristischer Exhibierung und soziologischer Autopsie.
Es war nicht nur ein Fall, es war eine Staatsaffäre.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2011 verschwindet die Auszubildende Laëtitia spurlos vor dem Haus ihrer Pflegefamilie. Der Fall hält das ganze Land in Atem, denn obwohl innerhalb von zwei Tagen ein Verdächtiger festgenommen wird, bleibt die junge Frau unauffindbar. Als klar wird, dass es sich um ein Verbrechen handelt, stürzen sich die Medien auf diese Nachricht und berichten bald überregional von der Suche. Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen sieht der damalige Präsident Nicholas Sarkozy die Gelegenheit gekommen und instrumentalisiert den Fall Laëtitia Perrais für seine Law-and-Order-Politik. Er zeigt sich empathisch, indem er ihre Angehörigen im Elysée-Palast empfängt, und übt Druck auf die Polizei aus. Zwei Monate später wird Laëtitias Körper gefunden. Ihr Mörder hatte sie zunächst vergewaltigt; sie dann in Plastiktüten eingewickelt und sich in einem See ihrer entledigt.
Auf den ersten Schock folgt bald Empörung, als sein sieben Seiten langes Strafregister bekannt wird. Sarkozy bezichtigt die Justiz diverser Fehler während vorheriger Vergehen des Angeklagten und die Zeitungen titeln: „Hätte dieses Drama verhindert werden können?“ Es folgt ein landesweiter Streik von Beamt*innen des Rechtsapparats. Während das Sterben zumeist eine sehr private und einsame Angelegenheit ist, folgert Ivan Jablonka: „Laëtitia dagegen starb öffentlich.“
I’ll be watching you
Geschichten um wahre Verbrechen und ihre Hintergründe erlebten in den vergangenen Jahren einen enormen Boom, neue Podcasts schossen aus dem Boden mit eingängigen Namen wie Darf’s a bisserl Mord sein oder My favorite Murder. Und dennoch sind sie kein Novum. So zählt die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY ungelöst seit 1967 zu einer der beliebtesten TV-Sendungen der Deutschen und Truman Capotes Roman Kaltblütig, der bereits 1966 erschien, gilt als Vorreiter dieses Genres zwischen literarischem Erzählen und dokumentarischem Journalismus. Im Mittelpunkt dieser Formate stehen allerdings die Täter*innen: die Fahndung nach ihnen, die Psychologisierung des Tathergangs und die Analyse ihres Motivs mythisieren, ja, glorifizieren gar schon ihre Tat und verhelfen den Grausamsten von ihnen zu Unsterblichkeit, während ihre Opfer gesichtslos bleiben. Diesem möchte sich Jablonka nun entgegensetzen.
Ich kenne nicht eine Erzählung eines Verbrechens, die nicht den Mörder auf Kosten des Opfers aufwertet. Der Mörder ist da, um zu gestehen, zu bereuen oder sich aufzublasen. In seinem Prozess ist er der Mittelpunkt, wenn nicht gar der Held. Ich möchte das Gegenteil tun und Frauen und Männer von ihrem Tod befreien, sie dem Verbrechen entreißen, das ihnen das Leben und sogar ihre Menschlichkeit nahm. Nicht ihrer als »Opfer« gedenken, denn das hieße, sie ein weiteres Mal von ihrem Ende her zu sehen, sondern sie wieder in ihrem Leben verankern. Zeugnis für sie ablegen.
Zwischen Einzelschicksal und Gesellschaftsporträt
Entstanden ist ein Buch, das die Grenzen zwischen Literatur, soziologischer Analyse und Reportage verschwimmen lässt. Akribisch skizziert er mithilfe von Akten der Jugendämter Laëtitias frühe Kindheit und Jugend, imaginiert ihre Sehnsüchte und Wünsche und verflicht in diese Erzählung die Suche nach ihren sterblichen Überresten. Er interviewt ihre Zwillingsschwester Jessica, Freund*innen und Familie, erhält Zugang zu ihrem Facebook-Konto, Tagebüchern und SMS-Nachrichten und porträtiert so eine zurückhaltende, sensible, junge Frau, deren Leben durch Sparmaßnahmen im Sozialsystem, sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld und patriarchale Strukturen stets fremdbestimmt war.
Als Professor an der Universität Paris XIII untersuchte Jablonka bereits die Auswirkungen eines staatlichen Eingriffs in das familiäre System und setzte seinen in Auschwitz ermordeten Großeltern mit Geschichte der Großeltern, die ich nicht hatte ein Denkmal. Die Geschichte ist zeitgenössische Literatur heißt ein weiteres Werk von ihm, in dem er aufzeigt, wie das vermeintlich Alltägliche uns die Vergangenheit und Gegenwart verstehen lässt. Ebendies stellt er in Laëtitia oder das Ende der Mannheit unter Beweis. Denn ihre Geschichte ist auch ein Porträt der französischen Gesellschaft in den frühen 2000er Jahren, in denen Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen zum Alltag gehört und Hilfe von außen nicht greift. „Ich wollte schon seit längerem über eine Lokalnachricht zu einem Kriminalfall arbeiten, weil sie die Versäumnisse unserer Gesellschaft, ja der Demokratie offenbart. Denn die Gewalt stellt unseren Alltag auf den Kopf“, so Jablonka in einem Interview mit France Info. Für dieses Werk erhielt er 2017 den Prix Medicis und den Prix littéraire du journal Le Monde.
Egoismus oder Solidarität?
Doch auch Jablonka instrumentalisierte Laëtitias Tod für seine Zwecke, verdiente mit ihrer Geschichte sein Geld und erhielt damit öffentliche Anerkennung. Ohne Laëtitias Tod würde es auch dieses Buch nicht geben. Und daher scheint die Tatsache paradox, dass gerade ein männlicher Autor diese Geschichte aufschrieb – selbst wenn dieser sich als Feminist bekennt und männliches Machtgehabe scharf verurteilt.
Der Fall Laëtitia offenbart das Spektrum an irregeleiteten Männerbildern im 21. Jahrhundert. Männliche Willkürherrschaften, missgestaltete Vaterschaften – das Patriarchat stirbt nicht aus. … Delirium tremens, klebrige Lasterhaftigkeit, plötzliche Mordlust, Kriminopopulismus: vier Kulturen, vier männliche Verdorbenheiten, vier Arten der Gewaltverherrlichung.
Sein Buch zeugt aber gleichzeitig davon, dass die Jahrzehnte währende Arbeit von Feministinnen Früchte getragen hat und Gewalt gegen Frauen* kein rein „weibliches“ Thema (was auch immer das heißen mag) ist, sondern ein gesellschaftliches. Und vielleicht braucht es dann auch die Sicht eines männlichen Autors, der über die Geschlechtergrenzen hinausgeht und sich für die Taten seiner Geschlechtsgenossen schämt. Und vielleicht braucht es dann auch seinen etwas pathetischen Ausspruch: „Ich bin Laëtitia“, wenn das Leiden der Anderen auch immer ein Leiden der Gesellschaft bedeutet.
Ivan Jablonka: Laëtitia oder das Ende der Mannheit, Matthes & Seitz, 2019.
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